Neues aus dem literarischen Untergrund – Witz komm raus!

Der literarische Untergrund ist überall, auch in meinen Schubladen und Schachteln, wo ich beim Aufräumen diesen Zettel fand. Er lag bei einem Zeitungsartikel vom August 1998 und stammt vermutlich von Schülerhand. Wie er in meinen Besitz gekommen ist, weiß ich nicht, aber er ist wohl ebenfalls aus dem Jahr 1998. Zu dieser Zeit unterrichtete ich an einem Aachener Gymnasium. Auf der Rückseite ist links oben mit Kugelschreiber mein Name vermerkt, vermutlich als einer von mehreren Adressaten, gewisse Lehrerinnen und Lehrer. Da ich mich nicht an den unterzeichnenden Namen erinnere, gehe ich davon aus, dass der Autor keiner meiner Schüler war.

Obwohl der Zettel erkennbar eine Fotokopie ist, hat er das unorthodoxe Format 163×194 mm, ist also aus einem Blatt DIN-A4 (210 x 297mm) nachträglich auf diese plump wirkende Proportion zurechtgeschnitten worden. Der Zuschnitt orientiert sich an der Größe des gezeichneten Briefes, aber der untere Rand ist viel zu kurz; die Zeichnung „sitzt“ nicht gut auf dem Blatt. Die Zeichnung ist mit Tuschefeder ausgeführt, erkennbar an der zittrigen Strichführung des Rands. Die beiden entgegengesetzten Winkel in der Umrandung sollen den Eindruck einer zweifachen Blattfaltung vermitteln. Zeichnerisch sind Risse angedeutet. Der Zeichner hat sich an der Formensprache von Comics orientiert, wobei ihm die Zeichnung weniger wie ein Brief, sondern mehr wie die Stilisierung einer alten Urkunde geraten ist.
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Der Text ist im Rückgriff auf eine kindliche Handschrift geschrieben. Insgesamt zeugt die Gestaltung von einer gewissen Virtuosität, wie sie erst Jugendliche erreichen. Im Text finden sich zehn absichtliche Rechtschreibfehler, im Bereich Dehnung und Schärfung (langer und kurzer Vokal), ein falsches Fugen-s und ein Kommafehler. Rechtschreibwissen ist folglich vorhanden, denn wer absichtlich Fehler machen will, muss wissen, wie es richtig ist. Ich schätze das Alter des Urhebers auf 17 Jahre. Er besitzt einige Kenntnisse und Fertigkeiten, andere wie der Blick für das gute Format und angemessene Proportionen fehlen. Die gewählte Form passt nicht ganz zum Inhalt.

Es handelt sich um den Brief eines Vaters an eine nicht näher bestimmte Redaktion. Der Schreiber klagt in diesem Leserbrief, sein Sohn sei schlecht in Rechtschreibung und fragt, ob das eventuell von der Frau des Schreibers ererbt sei. Das ganze ist ein gezeichneter Witz. Mit den Fehlern entlarvt der Autor den Schreiber als den eigentlichen Schuldigen. Er suggeriert, dass Rechtschreibschwäche vererbbar ist, dass der Verursacher zudem in selbstherrlicher Ignoranz seiner Frau unterstellt, die Schuldige zu sein. Wer ist denn dieser Carsten Böttcher, etwa der Autor selbst? Mir gewinnt der Zettel nur ein müdes Lächeln ab, weil sein Witz ins Leere zielt. Es ist billig, sich über Rechtschreibschwäche lustig zu machen. Aber als ein Beispiel subkultureller Bemühungen von Jugendlichen war er mir ein Sammeln und Aufbewahren wert.

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