Zu Fuß im literarischen Untergrund – die Lindener Zettelbox

Am Lichtenbergplatz, wo ich mein Kölsch kaufe, beginnt die Wittekindstraße. Eine martialische Skulptur bewacht den Platz. Sie stellt den Grafen Wittekind dar, nach dem die Straße benannt ist. Unklar ist freilich, ob er wirklich taubenblau gewesen ist, als er im Jahr 1115 Gerichtsherr des Flecken Linden wurde, wie einer Urkunde zu entnehmen ist. Die erste urkundliche Erwähnung gilt als Geburtsurkunde einer Siedlung. Vermutlich ist Linden aber älter, denn es muss schon etwas da sein, damit sich ein adeliger Parasit draufsetzen und Gerichtsherr spielen kann. Auch eine Gerichtslinde muss wachsen, bevor man ein paar renitente Bauernsöhne dran aufhängen kann.

Jedenfalls feiert die einstige Arbeiterstadt Linden, jetzt ein hipper Stadtteil Hannovers, dank Wittekind heuer 900 Jahre Linden. Bislang hatte ich das nicht beachtet, denn ich bin nicht von hier, wie sich an meiner Bierpräferenz ablesen lässt. Doch kürzlich hat mir ein freundlicher Mann einen in Folie eingeschweißten Würfel mit einem quadratisch zugeschnittenen Papierstapel verkauft. Gert Schmidt ist der Koordinator einer Initiative, die zum Lindener Jubiläum „nicht mehr genutztes und von Abfall bedrohtes Papier“ eingesammelt hat mit dem Ziel, „das Papier weiterzunutzen und den innewohnenden Wert der Bilder, Texte einer breiten Öffentlichkeit zukommen zu lassen.“ Teil dieser Öffentlichkeit bin jetzt ich, denn „innewohnende Werte“ haben mich schon immer interessiert.

Während meines Studiums hatte es eine Umbesinnung in der Literaturdidaktik gegeben. Im Zuge der aufkommenden Rezeptionsforschung rückte der Leser als Sinngeber in den Fokus der Aufmerksamkeit. Ich erinnere mich an ein Seminar, in dem wir an bedruckten Papierfetzen unbekannter Herkunft über Inhalt und Kontext spekulieren mussten, um zu erfahren, dass zum Lese- und Verständnisprozess verschiedene Faktoren gehören, nämlich die Situation, in der gelesen wird, die je subjektive Disposition, das eigene Vorwissen, die sich einstellenden Assoziationen und das Leseziel. In diesem Sinn ist die Zettelbox ein faszinierender Untersuchungsgegenstand. Ich will einen Zettel aus der Lindener Notizzettelbox exemplarisch auf seine „innewohnenden Werte“ untersuchen.


Der Zettel im Format 70*70 mm ist ein Ausschnitt aus einem Blatt DIN-A4, oben, links und unten angeschnitten. Der rechte Rand ist der Papierrand, was sich an den flatternden Zeilenenden ablesen lässt. Es handelt sich um Recyclingpapier. Seine Tönung stammt von den Farbresten des Altpapiers, aus dem es hergestellt ist. Am Papierrand zeigen sich Anzeichen von Vergilbung, was auf das vorgerückte Alter des Papiers schließen lässt. Der Zettel ist mit grauen und schwarzen Punkten übersät. Sie stammen vermutlich vom Staub der Glasplatte eines Fotokopierers.
Da auch die Schrift schwarz ist, in der Schule aber meist blaue Tinte verwendet wird, können wir davon ausgehen, dass hier die Fotokopie eines handgeschriebenen Textes vorliegt. Die Handschrift ist gleichmäßig und wenig entwickelt, im Einzelnen noch stark an den Vorlagen der erlernten Lateinischen Ausgangsschrift orientiert. Das zeigt sich an den barocken Schlaufen der Großbuchstaben E, S, D und dem Formballast beim großen H. Diese Elemente verschwinden bei entwickelten Persönlichkeitsschriften als erste. Die sauber ausgeführten Deckstriche beim kleinen t wie überhaupt der allgemeine Eindruck lassen auf ausgeprägte feinmotorische Fähigkeiten schließen. Den Text hat vermutlich ein etwa 10-jähriges Mädchen aus einem Buch abgeschrieben, denn die 2. Zeile enthält den von Schülern selten bis nie benutzten Strichpunkt. Überdies ist er fehlerfrei. Das Wort „ißt“ der ersten Zeile wird seit der Orthographiereform von 1996 „isst“ geschrieben. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass das originale Blatt mindestens 25 Jahre alt ist, aber nicht älter als 40 Jahre, denn Fotokopierer wie auch Recyclingpapier wurden erst Anfang der 1980 Jahre in Schulen eingesetzt. Inhaltlich wird das konventionelle Essensritual einer Familie aus einem fremden Kulturkreis beschrieben, denn in Deutschland wird das Essen nicht mit [unter]geschlagenen Beinen aus Schälchen eingenommen.

Der Zettel ist einer der ältesten aus der Box. Gemessen an 900 Jahren konnte ich nicht besonders tief graben. Vielleicht findet eine aufmerksame Lindenerin, ein aufmerksamer Lindener einen deutlich älteren Zettel in ihrer/seiner Box und macht ihn mir zugänglich, selbst interpretiert oder zur Interpretation durch mich. Alltags-Archäologen an die Arbeit!

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16 Kommentare zu Zu Fuß im literarischen Untergrund – die Lindener Zettelbox

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