Bericht von einer wunderbaren Menschenunterhaltung

Als ich den Warteraum betrat, lag das etwa acht Monate alte Kleinkind zu Füßen seiner sitzenden Mutter. Der Säugling riss die Augen kugelrund auf und staunte mich an. Ich grinste, verzog mein Gesicht, aber es gelang mir nicht, ihm eine Reaktion zu entlocken, die über das große Staunen hinausging. Also ließ ich es und staunte einfach zurück. Nur selten musste das Wesen blinzeln. Da gingen die Lider runter und wieder hoch wie Fensterjalousien, wenn sich ein Paar nicht einigen kann, ob die Sonne draußen bleiben soll oder rein gelassen wird. Die Sonne war ich. Lichtenberg sagt: „Die unterhaltendste Fläche auf der Erde für uns ist die vom menschlichen Gesicht.“

Leider dürfen nur Kleinkinder dieser wunderbaren Menschenunterhaltung nach Herzenslust frönen. Sonst gilt das Anstarren als unschicklich. Zu Lichtenbergs Zeiten konnte es sogar Anlass für eine Einladung zum Duell sein. „Mein Herr, Sie haben mich fixiert. Hier meine Karte!“

Minutenlang staunten wir uns an. Ich weiß nicht, was in dem Kind vorgegangen ist. Hoffentlich hat es keinen bleibenden Schaden davongetragen. Aber ich glaube eher, da geschah in ihm eine Sorte Erweckung. Die junge Mutter hat von der Erweckung ihres Kindes überhaupt nichts mitbekommen. Sie blätterte stirnrunzelnd in einem Lesezirkelheft. In ein paar Jahren, wenn ihr Kind noch vor der Einschulung sein erstes 20 Strophen langes Poem geschrieben hat, ein als Zyklus angelegtes dichterisches Werk mit lyrischen und epischen Elementen, wird das große Staunen in die ganze Familie kommen und man wird sich fragen: „Wieso kann er das? Woher hat er das bloß?“ Und die Mutter wird verschämt denken, dass ihr Anteil leider verschwindend gering sein muss. Denn sie hat immer nur in Burdas Bunte buchstabiert.

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