Von allen Seiten anschauen – Über das Umkreisen von Dingen

Das Palindrom wie etwa der Nonsenssatz „Leg in eine so helle Hose nie ’n Igel“, gehört landläufig in die Abteilung Sprachspiel. Ein wenig unheimlicher ist da schon der Rückling, ein Palindrom, das von hinten gelesen eine zweite Botschaft enthält: „Die Liebe ist Sieger“ heißt rückwärts gelesen: „Rege ist sie bei Leid“ und lässt uns an SM-Spielchen denken, wie sie neuerdings durch die Roman-Trilogie „Fifty Shades of Grey“ modisch geworden sind. Rückwärtslesen und -sprechen ist aber eine uralte magische Praxis. Zaubersprüche und Flüche können nur durch Rückwärtssprechen wieder zurückgenommen werden.

Geradezu ungeheuerlich und machtvoll muss da ein Name, Bannfluch oder Zauberspruch in Form eines Palindroms gewesen sein. Dieses Palindrom ist der nicht mehr zu lösende Bann, ein wahrer VERSUS DIABOLICUS. Das unheimlichste, weil rätselhafteste mir bekannte Palindrom ist der lateinische Vers:


(Bei Nacht irren wir im Kreis und werden vom Feuer verzehrt.)

Umkreisen ist eine okkulte Praktik. Vielleicht tanzen hier Menschen ums Feuer. Aber auch Mücken könnten gemeint sein. Was? Natürlich gab es schon Mücken im alten Rom. Wo ein Fluss ist, gibt es Mücken. Die pontinischen Sümpfe waren sogar mit der gefährlichen Anopheles-, auch Malaria- oder Fiebermücke verseucht. Zudem waren die Wasserbecken der Atrien ideale Brutstätten, ideal natürlich nur für die Mücken. Um sie fernzuhalten waren römische Schlafzimmer meist fensterlos. Die Vorstellung, dass Mücken ein Feuer umkreisen und von ihm verzehrt werden, hat jedenfalls etwas Tröstliches für den von Stichen geplagten Römer. Das Palindrom wäre dann ein Bannspruch. Es befremdet darin allerdings das Lyrische Ich. Culex, die sprechende Mücke? Das hätte sie besser nicht getan, denn jetzt hängt der ganze Schwarm im Palindrom fest und sein Schicksal ist besiegelt. Da haben wir kein Mitleid, aber egal, es geht hier ums Umkreisen.

Seit einigen Tagen kreist die Idee eines Fotoprojekts durch meinen Kopf, Dinge des Alltags von allen Seiten zu fotografieren. Die meisten Objekte haben nämlich eine Seite, die sie besonders typisch macht. Andere Ansichten sind eher indifferent. Diese Ansichten ebenfalls zu zeigen, könnte erhellend sein.

Zum Mittagessen war ich letztens häufig in einer Mensa der Leibnizuniversität, der Contine, benannt nach dem Continental-Hochhaus, einem früheren Verwaltungsgebäude des Konzerns, das heute von der Leibnizuniversität genutzt wird. Der Rückweg führt mich durch den Georgengarten, einen weitläufigen Park, der zu den Herrenhäuser Gärten gehört. Da steht dann dieser Baum, dessen junges Grün am hellen Mittag verlockend in der Sonne leuchtet.

Bilder 1 und 2: Diesen prächtigen Baum wollte ich als erstes Ding fotografisch umkreisen. Die Schnur (Bilder 2, 3 und 4) sollte gewährleisten, dass ich den richtigen Abstand einhalte. (Größer: Klicken) Bei meinem ersten Versuch am Tag zuvor hatte ich keinen Kreis hinbekommen. Der Baum hatte mich wie magisch angezogen, so dass ich Bild zu Bild immer weniger von seiner Krone abgelichtet habe. Auch diesmal konnte ich wegen der Alleebäume nebenan nicht weit genug weg.

Ich will mein Fotoprojekt nicht mystisch überhöhen, aber im Baum verkörpert sich das Zyklische des Lebens, das Werden und Vergehen im Jahreslauf. Erstaunlicher Effekt: Im Gif scheint der Baum zu kreisen, obwohl eigentlich ich ihn umrundet habe, vom Licht in den Schatten und zurück ins Licht. Die Erkenntnis: Umkreise ein Ding rechtsrum und es wird sich linksrum drehen.


Fotos und Gif-Animation: Trithemius

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