An der Leine entlang gedacht

Breit und satt strömt die Leine dahin. Ihr Wasser ist lehmig trüb. Wo sie herkommt, muss es mächtig geregnet haben. Die Frühlingssonne verlockt mich, ein Stück am Fluss stromauf zu fahren und gleichzeitig entlang zu denken. So ein Fluss ist ja keine Sache, kein greifbares Ding, sondern eine Vorstellung, eine geistige Konstruktion, auch wenn er sich plätschernd und gurgelnd durch die Landschaft wälzt. Myriaden von Regentropfen sind chaotisch auf die Erde geprasselt, haben sich in Pfützen und Tümpeln versammelt, versickern, treten wieder zu Tage, und wo die Landschaft ein Gefälle aufweist, rinnen sie versammelt talwärts.

Der Mensch erkennt im chaotischen Vorwärtsdrängen bald eine Struktur, nennt sie zuerst Rinnsal, dann Bach, später Fluss, gibt ihr überdies einen Namen und trägt ihren Verlauf in Landkarten ein. Die Bezeichnung Fluss verleiht der Struktur etwas scheinbar Festes, ihr jeweiliger Name hilft, verschiedene dieser Strukturen gleicher Art voneinander zu unterscheiden. Genau betrachtet ist jede dieser Strukturen Chaos. Das wird sofort deutlich, wenn ein Fluss zu viele Wassertropfen versammelt. Dann droht die Struktur sich chaotisch zu verlaufen. Wo der Mensch jedoch eine Struktur erkannt und benannt hat, duldet er keine Auflösung im Chaos, weshalb er Deiche baut, um zukünftig drohendes Chaos auszuschließen.

Die Namensgebung der Flüsse ist übrigens erst spät entstanden. Die meisten europäischen Flussnamen sind keltischen oder indogermanischen Ursprungs und bedeuteten eigentlich nur „Wasser“ (wenn sie mit denVokalen A, E, I beginnen) oder „Fluss“. Jede Begriffsbildung, jeder Name sind Dämme gegen das Chaos und sollen helfen, eine chaotische Welt begreifbar zu machen. Auf diese Weise orientiert sich der Mensch. Aber diese Form der Orientierung kann sich gegen ihn wenden, besonders wenn Sprache noch als Aneignung von Welt empfunden wird und Namen magischen Charakter haben, nämlich nicht nur eine Idee benennen, sondern stellvertretend für die Sache stehen.

In der keltischen Mythologie gibt es negative oder positive Verpflichtungen, Verbote oder Tabus, die „Geis“ heißen. Meist werden Herrscher oder spätere Helden bei ihrer Geburt mit einem Geis belegt. Dem keltischen Sagenheld Fionn mac Cumhaill war das Geis auferlegt, er dürfe niemals aus einem Horn trinken. Eine Fassung von Fionns Ende berichtet, dass er das Geis ein Leben lang gewissenhaft einhielt. Auf seiner letzten Wanderung trank er lieber direkt aus dem Bach, sank aber tot zu Boden, nachdem er erfahren hatte, dass das Gewässer „Horn“ hieß. (nach Botheroyd, Lexikon der keltischen Mythologie)

Wie hätte er
das wissen können? Es standen ja zu seiner Zeit keine Namensschilder an Flüssen. Pech für Fionn. Vielleicht hätte er nicht aus dem Horn getrunken, wäre er so schlammig gewesen wie die Leine gestern. Aber ganz egal, er wäre jetzt so oder so längst tot. Das tröstet.

Dieser Beitrag wurde unter Schrift - Sprache - Medien abgelegt und mit , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

9 Kommentare zu An der Leine entlang gedacht

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.