Aprilenbot, Aprilenbot! – Lebenslänglich Aprilsjeck

Statt eines launigen Aprilscherzes etwas über altes und modernes Brauchtum und die Vergeblichkeit menschlichen Bemühens: Der Schweizer Ethnologe Hanns Bächtold-Stäubli beschreibt im „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ einen Brauch aus Württemberg: „Am ersten April schickt man die Kinder in die Häuser mit einem Zettel, auf dem steht:

Aprilenbot, Aprilenbot!
Schick den Narren weiter
Gib ihm auch ein Stücklein Brot,
Dass er net vergebens goht.“

Während meines Seminars zum Thema Handschrift in der Bauhausuniversität Weimar, machte mich die Studentin Theresa Zingel auf die Theorie der Nichtorte des französischen Ethnologen Marc Auge aufmerksam. Zingel hatte zuvor Landschaftsarchitektur studiert und für ihre Abschlussarbeit quasi das Gegenteil eines Nichtortes realisiert, einen Ort der Kommunikation, die Milchbank. Wen es am Schluss des Artikels fröstelt, möge sie wenigstens digital besuchen.

Nichtorte sind Orte, die man aufsucht, um sie zu verlassen wie Bahnhöfe und Bushaltestellen. Dabei darf man nicht an die Bahnhöfe der Großstädte mit ihren Einkaufszentren, Fressständen, Dienstleistungs- und Versorgungseinrichtungen denken. Wer schon einmal in der Provinz auf einem windigen Bahnsteig gehockt hat, hinter sich das verrammelte und verrottende Bahnhofsgebäude, der hat das überzeugende Beispiel eines Nichtortes erlebt. Als Student habe ich einmal lange an einer Bushaltestelle in der wallonischen Provinz gestanden und gewartet. Die Ödnis dieses Nichtortes war nicht zu übertreffen. Auch der ausgehängte gammelige Fahrplan hat mir nicht geholfen, denn da war niemand, der Auskunft geben konnte, ob er überhaupt noch gilt. Ich erinnere mich nicht, wie ich da weggekommen bin, kann nur zuverlässig sagen, dass ich nicht mehr da stehe.

Damals dachte ich bereits, dass stumme Auskunftgeber wie Hinweisschilder und Anzeigetafeln Ausdruck der sozialen Entfremdung sind. Der französische Philosoph Michel Foucault nennt derartige Orte „Heterotopien“ „Orte außerhalb aller Orte“, die nach seiner Ansicht kommunikative Verwahrlosung anzeigen. Foucault zählt dazu ausdrücklich Altenheime, euphemistisch ‚Seniorenzentren‘ genannt.

An den Orten außerhalb aller Orte, wo unsere Gesellschaft die Alten zentriert, findet man zunehmend Nichtorte der besonderen Art, Trughaltestellen im geschlossenen Garten oder Park der Einrichtung. Demente Insassen können sich hier der Illusion hingeben, sie würden jetzt nach Hause fahren. Haben sie eine Weile dort vergeblich gewartet, ist der Impuls, nach Hause zu wollen wieder vergessen und sie kehren freiwillig in den Schutz der Einrichtung zurück oder werden freundlich abgeführt. Natürlich gibt es zu dem neuen Brauchtum der Scheinhaltestellen bereits einen Eintrag bei Wikipedia, diesem grandiosen Nichtort des Digitalen.

April, April!: Letze Haltestelle Demenz, Trughaltestelle in Hannover-Linden, wo niemals ein Bus hinkommt, denn das Gelände ist rundum geschlossen und von außen unzugänglich. Deshalb die ungünstige Perspektive. – Foto: Trithemius, (größer: klicken)

Da findet sich das Beispiel einer Trughaltestelle auf dem Gang. Was zunächst absurd erscheint, entpuppt sich als besonders fürsorgliche Maßnahme der palliativen Therapie, denn so können reiselustige Demente geschützt vor Regen, Sturm und Kälte warten, bis etwa Pflegepersonal ihnen erzählt: „Die U-Bahn kommt heute nicht. Sie wird bestreikt!“ Es fehlt aber die Auflösung des Schwindels, der heitere Ruf: „April! April!“ Mich beschleicht seit Tagen der böse Verdacht, dass unsere Gesellschaft eine Fülle bislang unerkannter Nichtorte bereit hält, an denen wir wie die Dementen lebenslang in den April geschickt werden, und keiner kommt, uns zu erlösen.

Ach so, die kindlichen Aprilboten vom Beginn. Hier zeigen sich die Macht des Alphabets und die Ohnmacht des Analphabeten. Wenn sich niemand erbarmt, wird das Kind bis zur Erschöpfung weitergeschickt, ohne zu wissen wie ihm geschieht.

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