Pflanzherr, mein Pflanzherr! Über Wörterbücher und Lemmata

Ein Lemma ist das Stichwort des Wörterverzeichnisses. Wenn ein Stichwort des Sprachgebrauchs fehlt, sprechen wir von einer Lemmalücke. Das Wort ‚Lemmalücke‘ ist in vielen Wörterbüchern selbst eine Lemmalücke, was kaum auffällt, denn anders als die Zahnlücke sieht man die Lemmalücke nicht. Lediglich der erste Duden nach der Nazizeit, die 13. Auflage, die ich leider nicht besitze, soll weiße Flecken, also erkennbare Lemmalücken gehabt haben. Als Notbehelf hat man angeblich aus dem Blei der stereotypierten Seiten der 12. Auflage die Begriffe Nazideutschlands heraus gestochen, um nicht alles neu setzen zu müssen.

Daran zeigt sich eine Ursache der Lemmalücke. Wörterbücher spiegeln kulturelle Normen. Tabuisierte Wörter werden nicht verzeichnet. Indem sich Tabubereiche wandeln, verschwinden Lemmata und gelegentlich Lemmalücken. Während seiner Arbeit am Deutschen Wörterbuch schrieb Jacob Grimm an seinen Verleger Hirzel über das Lemma ‚Arsch’ :

„in der ausarbeitung gerate ich jetzt an ein wort, das bei frauen nicht aufgeschlagen werden darf. ein philolog kennt aber nichts obscoenes, ihm erscheinen alle wörter und gerade solche sehr wichtig und wissenswert. alle lateinischen und griechischen wörterbücher lassen ihnen gebührendes recht widerfahren, was kümmern uns die modernen?“

Jacob Grimm zwängte also den ‚Arsch’ in eine Lücke, die seine Vorgänger gelassen hatten, und berichtete seinem Verleger stolz „mit dem bedenklichen artikel (…) glaube ich fertig geworden zu sein. ich sehe, daß man auch solche dinge behandeln kann, wenn man gelehrsamkeit und vermögen aufwendet und dichterstellen zur begleitung hat. Campe und Adelung hättens nicht gewagt, noch gedurft.“


Ein Wort verblasst, die Lemmalücke entsteht und wird unsichtbar. – Grafik: Trithemius

Kurzzeitige Lemmalücken können entstehen, weil ein Wort verblasst, also allmählich aus dem Sprachgebrauch verschwindet. So erging es dem schönen Wort ‚Eulenflucht, das noch im 19. Jahrhundert ein Synonym für Abenddämmerung war. Der Germanist Peter Wapnewski nennt seinen Essay über das Grimmsche Wörterbuch im Spiegel treffend: „Ein Schatz- und Beinhaus unserer Sprache.“ Zum Beinhaus kann ein Wörterbuch verkommen, wenn verblasste Wörter, Wortleichen, wie ‚Biermörder’, ‚Zungenziegel, ‚Zückeschnur’ nur noch fortbestehen, weil sie im Wörterbuch verzeichnet sind. Oft haben sich ja die realen Grundlagen so verändert, dass ein Wort nicht mehr zugeordnet werden kann.

Auch wenn die Einstellung zur Umwelt sich wandelt, sterben Wörter. Wo der Sinn für Romantik verloren ist, da mag man ‚Eulenflucht’ nicht mehr sagen. Das verlangt von Wörterbuchmachern den Mut zur Lücke. Doch immer ist es problematisch, einem Wort den Totenschein auszustellen, weil manche Wörter nur scheintot sind und, mit neuer Bedeutung aufgeladen, wiedererweckt werden können, wie beispielsweise ‚Kommerz’. Bis ins beginnende 20. Jahrhundert war Kommerz ein Synonym für ‚Handel’ (vergl. Commerzbank). Meyers Konversations-Lexikon verzeichnet ‚Kommerz’ aber bereits 1888 als veraltet. Gut 30 Jahre später schnitt Kurt Schwitters den Wortbestandteil ‚Merz’ aus ‚Kommerzbank’ und nannte so seine Spielart des Dadaismus. In den 1960er Jahren tauchte ‚Kommerz’ als ganzes und frisch poliert wieder im Sprachgebrauch auf, nämlich in der alliterierenden Wendung ‚Kunst und Kommerz’.

Manche Wörter sind aber auch zu Recht in Vergessenheit geraten, weil sie künstliche Bildungen von Sprachreinigern waren, die beispielsweise ein Fremdwort ersetzen sollten, das längst eingedeutscht war. Wollten wir die ‚Dörrleiche’ beleben, so bliebe sie doch nur eine ‚Mumie’. Und wie schwer würde es uns fallen: „Pflanzherr, mein Pflanzherr!“ zu rufen statt „Vater, mein Vater!“ Und was ist, wenn der Nachbar schon wieder zum ‚Tagleuchter’ hereinwinkt? Dann winkt er durchs ‚Fenster’, dieser Armleuchter, und das ist echt lästig, wenn frau mal in Ruhe das Lemma ‚Arsch‘ aufschlagen will.

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