Frozen shoulder (4) – Schmerzen oder Scheißerei

Im Speisesaal werden feste Plätze zugewiesen. Mit mir am Tisch sitzt ein Polizist, der schon zwei Jahrzehnte an den Folgen eines Dienstunfalls leidet. Wenn er nicht in Kur ist, beschäftigt er sich mit Todesfallermittlungen. Zuvor war er Streifenpolizist. Seine Geschichte klingt nach dümmer als die Polizei erlaubt: Auf einer abschüssigen Straße, die von blühenden Kirschbäumen gesäumt war, verfolgte er einen Einbrecher und hatte ihn gerade gestellt, da wurde er von einem Streifenwagen erfasst. Der Streifenwagen war wegen der Kirschblütenblätter auf der Straße ins Rutschen geraten und verletzte ihn so schwer, dass er wohl niemals mehr gesunden wird.

Schon sechsmal war er deshalb in Kur, bezahlt von der Haftpflichtversicherung des Einbrechers. Ein Richter hatte damals folgendes geurteilt: Es ist nicht strafbar, vor der Polizei zu fliehen. Wohl aber haftet der Fliehende, wenn ein Polizist bei der Verfolgung Schaden erleidet. In der Folge war ich froh, dass der Polizist selten bei Tisch auftauchte. Am Ende wünsche ich dem Kerl zur Unzeit: „Guten Appetit!“, der verschluckt sich bei der Antwort, erstickt daran, und ich habe keine Haftpflichtversicherung.

Es gibt eine Bibliothek, aber ich bin der einzige, der drin stöbert, niemand außer mir liest ein Buch. Wenn die fetten Jammergestalten lesen wollen, dann greifen sie nach den in der Cafeteria aushängenden Intelligenzpostillen BILD oder Express. Immer wieder erschrecke ich vor den vielen fetten Menschen, vor allem aber vor ihrem dümmlichen Gerede. Ein guter Ex-Kollege berichtete, ihm seien bei ‚Kaufland‘ im Rolltreppen-Gegenverkehr 150 IQ „entgegengerollt, diese leider auf 15 Personen verteilt! Genau dieses Publikum humpelt hier an Krücken und bevölkert die Cafeteria. Verständlich, dass die einsame Wölfin sich nicht in der Cafeteria aufhalten mag. Ich habe sie bei mir „Miss Schwertbad“ getauft. Am Tag, als Miss Schwertbad abreist, bin ich glatt ein bisschen traurig. Ein Lichtblick schwindet. Es gibt kein System in den An- und Abreisen. Ein stetiger Strom von dummen fetten Leuten auf Krücken zieht durch die Reha-Einrichtung. Wo kommen die nur alle her?

Angeschnittenes Portal der Rheumaklink und Burtscheider Markt – Foto: Trithemius

Ich hab mal recherchiert. Im Internet flogen mir die künstlichen Hüftgelenke nur so um die Ohren. In Deutschland werden jährlich, schluck, 400.000 künstliche Hüftgelenke implantiert. Als würde man jedem Einwohner von Wuppertal, Greis oder Säugling, ein künstliches Hüftgelenk einbauen, und man hätte noch 50.000 in Reserve fürs nächste Jahr. Ein Säugling braucht doch noch kein künstliches Hüftgelenk, werden jetzt manche einwenden. Wo sollen also die 400.000 Hüftpatienten herkommen? »Es ist ganz einfach«, sagt der Kieler Orthopäde Joachim Hassenpflug in der ZEIT « Indem Ärzte ihre Patienten zum Beispiel immer früher zum künstlichen Hüftgelenkersatz drängen.«

Lachender Orthopäde – Foto: Trithemius

Die Fallpauschale für den unkomplizierten Einbau einer Prothese inklusive Klinikaufenthalt liegt laut ZEIT bei rund 6.600 Euro. Macht bei 400.000 Hüftgelenken die stattliche Summe von 2,64 Milliarden Euro für die Gesundheitsindustrie. Etwa 2 Milliarden muss man noch für die Anschlussheilbehandlungen veranschlagen. Wenn der Einbau von künstlichen Hüftgelenken so ein gutes Geschäft ist, kann man es auch prophylaktisch schon mit Wuppertaler Kleinkindern machen, vorausgesetzt, sie sind fett und ihre Eltern blöd genug. Sorry, jetzt habe ich mich ganz in meinem Beispiel verfangen und blicke nicht mehr durch vor lauter dicken Leuten auf Krücken.

Oft ist zu lesen, dass Leute mit geringem Bildungsstand adipös sind, weil sie sich schlecht ernähren. Fettleibige belasten ihre Hüftpfannen besonders und sind vielleicht auch anfälliger für die Einflüsterungen der Orthopäden. Das würde erklären, warum die Patienten keinen Querschnitt der Bevölkerung abbilden, sondern eher dem Bildungsprekariat angehören.

Im seltsam zusammengewürfelten Bestand der Bibliothek finde ich Herbert Rosendorfer wunderbaren Roman in „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ .
Rosendorfer behauptet darin, der Heilungsquotient in unserem Gesundheitssystem habe 1980, im Jahr seines Zenits, bei 60 Prozent gelegen. Seither sei er nicht mehr gestiegen. Der Schamane, der mit seinem Mummenschanz den Kranken umtanzt, habe den gleichen Heilungsquotienten. Ich konnte die Zahl leider nicht verifizieren, halte sie aber für plausibel. Ein Freund und Exkollege, dem ich davon erzählte, als er mich besuchte, führte das auf die Zuwendung zurück, die der Kranke durch den Schamanen erfährt.


Last Exit? – Foto: Trithemius

Die moderne Apparatemedizin vernachlässigt diese Zuwendung. Ein längeres Gespräch bringt kaum Geld, eine Operation bei gleichem Zeitbedarf ein Vielfaches. Wohl aus dem schlechten Gewissen heraus haben die Orthopäden, die den Deutschen am laufenden Band Hüftprothesen einsetzen, sich alle der Schmerzfreiheit verschrieben. Sie sägen den Leuten das Hüftgelenk heraus und zementieren ihnen ein künstliches ein, aber es darf nicht weh tun. Entsprechend verschreiben sie starke Schmerzmittel. Weil die aber den Magen schädigen, bekommt der Patient gleichzeitig Tabletten für den Magen. Trotzdem haben viele Patienten Magen-Darm-Probleme. Letzlich müssen sie sich entscheiden zwischen Schmerz und Scheißerei.

Das ganze System ist beängstigend. Am Ende darf kein Deutscher mehr sterben, bevor sie ihm nicht wenigstens ein künstliches Hüftgelenk reingefummelt haben. Fette Bildzeitungsleser mit Durchfall humpeln auf Krücken in den Tod. Ist das die Zukunft der Deutschen?

Musiktipp
The Staves
Black & White

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