Frozen shoulder (3) – Männer, die mit Krücken zeigen

Der Ortsname Burtscheid leitet sich her vom lat. Porcetum, „Schweinetrift“. Gemeint sind Wildschweine, die den Wald der Gegend in großer Zahl bevölkerten. Schon die Römer hatten das in 25 Quellen zu Tage tretende 50 bis 70 Grad heiße Thermalwasser zum Kuren genutzt. Dampfende 74 Grad hat das Wasser der Landesbadquelle, der heißesten Therme Mitteleuropas. Eine Weile habe ich im Aachener Stadtteil Burtscheid gelebt. Täglich lief ich durch die beschauliche Fußgängerzone über den Burtscheider Markt, wo sich gleich einer Klippe das klotzige Gebäude der Rheumaklinik erhebt, ehemals Bad der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz.

Meine Erinnerung an diese Rheumaklinik ist untrennbar mit dem Bild von Männern verbunden, die ihre Krücken wie verlängerte Zeigfinger benutzten, wenn sie an den Wochenenden ihren Besuch durch Burtscheid führten. Herumstreifende Kurgäste auf Krücken gehören in Burtscheid zum Straßenbild. Humpelte jemand durch den Eingang der Rheumaklinik, habe ich gedacht, dass ich gerne das Gebäudeinnere sehen würde. Niemals kam ich auf die Idee, dass ich einmal als Patient in diese Einrichtung einfahren und meine Neugier befriedigen könnte.

Burtscheider Klippen – Alte Rheumaklinik – Foto: Trithemius

Kürzlich verbrachte ich drei glückliche Wochen in Aachen. Ich war nach einer Schulteroperation zur Anschlussheilbehandlung im Burtscheider Schwertbad, einer Einrichtung, die sich über mehrere Gebäude verteilt. Zum Gebäudekomplex gehört inzwischen auch die alte Rheumaklinik. Die Burtscheider Quellbäche haben sich über Jahrtausende in die Landschaft gegraben, so dass vom Talgrund, durch den die Fußgängerzone verläuft, die Hänge links und rechts steil ansteigen. Auch die Neubauten des Schwertbads sind in den Hang gebaut. So erklärt sich, dass im zehnstöckigen Gebäude der Zugang zur Tiefgarage auf der 4. Etage liegt. Der hangseitige Haupteingang befindet sich auf der 6. Etage. Man hat vom Treppenhaus einen schönen Blick über die Dächer von Burtscheid sowie auf die Klosterkirchen auf der gegenüberliegenden Hangseite.

Morgensonne auf Abteikirche St. Johann-Baptist und St. Michael – Foto: Trithemius

Anfänglich schwer durchschaubar ist das Gangsystem, das Rheumaklinik und Neubauten des Schwertbads miteinander verbindet. Durch eine rundum geschlossene Brücke überquert man das gepflasterte Sträßchen Adlerberg, hat unter sich den Eingang zur öffentlichen Sauna. Hier bin ich einst ziemlich oft gewesen, denn meine damalige Freundin liebte es, in die Sauna zu gehen, und weil ich sie liebte, ertrug ich die vielen unansehnlichen nackten Körper, die sich in einer Sauna zur Schau stellen. Dass grüne Äpfel einen roten Apfel in ihrer Mitte so recht zum Leuchten bringen, verdankt er dem Komplementärkontrast. Ähnlich strahlte die schlanke ranke Gestalt meiner Freundin inmitten der fettleibigen und krummen Gestalten der anderen Saunagänger.

Dem Komplementärkontrast verdankt auch eine junge ranke Patientin die Aufmerksamkeit der männlichen Patienten. Sie hat weder eine Krücke noch sonst einen erkennbaren Makel, hält sich im Gegenteil so kerzengerade, dass es eine wahre Augenlust ist, sie zu sehen. Als ich ihr einmal näher begegne und ein paar Worte mit ihr wechsele, schaue ich freilich in ein enttäuschend leeres Gesicht.

Vordergrund macht Bild gesund – Burtscheider Abteitor mit Frau – Foto: Trithemius

Wir sind zusammen in einer Kochgruppe, die unter Anleitung einer Diätköchin ein Fünfgänge-Menu kocht. Da höre ich sie sagen, sie sei ein einsamer Wolf („Wölfin eher“, denke ich) und lebe mit einer Frau zusammen, mit der sie „die gleiche Wellenlänge“ habe. Wie wir nebeneinander am Tisch sitzen, liegt mein Druckbleistift ein wenig zu ihrem Platz hin. Ganz mechanisch nimmt sie ihn mit spitzen Fingern und legt ihn drei Zentimeter weiter auf mich zu ab. Diese Geste befremdet mich sehr, einerseits wegen der Anmaßung, mein Eigentum zurecht zu rücken, andererseits wegen des darin zum Ausdruck kommenden Revierverhaltens und der Pedanterie, die sich Bahn brechen, obwohl wir uns kaum kennen. Sie jedenfalls verkündet auch, dass sie sich niemals in der Cafeteria aufhalten möge.

Demgemäß liegt das Durchschnittsalter in der Cafeteria der Rehaklinik gefühlt bei 70. Da ist auch eine muntere gut 80-jährige Bäckereibesitzerin (Ich bin viel älter als man denkt“) aus dem Selfkant, deren hohe Stimme weit hörbar durch die Cafeteria schallt. Ihr Sohn auf Besuch überragt sie um zwei Kopflängen. „In der Familie sind wir alle so zierliche Frauen und große Männer“, erklärte sie stolz und tönt lauthals: „Mein Mann war linker Flügelleutnant in der Waffen-SS!!!“. Muss wirklich ein langes Laster von einem Mann gewesen sein. Einer meiner Onkel war auch in der Waffen-SS. Als die Alliierten anrückten, hat er seine Uniform im Garten vergraben und ist mit einem gewaltigen Schiss in der Hose zur CDU übergelaufen. Die CDU ist auch die erste Adresse im erzkatholischen Selfkant. Man erzielt hier bei Wahlen gut 70 Prozent.

In der Cafeteria
rümpft keiner außer mir die Nase. Waffen-SS? Da war doch was? Freilich ist jeder sowieso nur mit sich, seinem Übergewicht und seinen Malaisen beschäftigt. Weil die meisten Patienten ein künstliches Hüftgelenk oder ein neues Kniegelenk bekommen haben, ist die übliche Gangart vierbeinig. Man stützt den vorgebeugten Oberkörper auf Krücken. Sind menschliche Hüftgelenke nicht auf ein Alter über 60 ausgelegt? Zumindest sind sie nicht dem enormen Fettgebirge gewachsen, das viele mit sich rumschleppen. Ein Gesprächsfetzen von irgendwo: „Wenn ich mein Gewicht tragen muss, dann hab ich es schwer!“

Wird fortgesetzt

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6 Kommentare zu Frozen shoulder (3) – Männer, die mit Krücken zeigen

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