Auszeit – Schauen Sie unter den Stein!

Du musst etwas schreiben, raunt es in mir. Du musst etwas hinterlassen, bevor du wegfährst, etwas wie eine Zettelbotschaft, die man unter einen Stein legt. Also dann, es ist noch früh am Morgen: „Sie werden sich nicht mehr an mich erinnern!“, sagt die Narkoseärztin, indem sie mir die Hand reicht. „Doch ich erinnere mich an Sie!“, widerspreche ich, muss aber nachfragen: „Wo haben wir uns gesehen?“ Sie war nicht bei mir, als ich anästhesiert wurde, ist nur für meine Schmerzen zuständig, nein, für das Gegenteil, ist mein Narkoseengel für die Nichtschmerzen. Später frage ich den Nachtdienst nach dem Namen meines Engels. „Dr. Lindenberg“. Aber ich habe keine Gelegenheit mehr, sie zu überraschen, indem ich sie mit ihrem Namen anrede. Die Klinik wirft mich schon am zweiten Tag wieder hinaus.

Montag vor zwei Wochen wurde ich an der Schulter operiert. Ich liege auf dem OP-Tisch. Über mir ein Mann mit Maske, die nur die Augen freilässt, der Anästhesist. Ich blicke hoch und frage: „Sind Sie Dr. Orth? Er schiebt die Maske hoch, damit ich ihn erkennen kann und sagt: „Ja!“ Da schließe ich die Augen und vertraue diesem Mann mein Leben an. Ich werde aufgerichtet und in sitzender Position fixiert. Wie seltsam ist es, in Narkose zu versinken. Ein Anflug von Übelkeit, aber sie schafft es nicht ganz ins Bewusstsein, schon sackt sie mit mir weg. In der selben Sekunde werde ich wach, und Dr. Orth sagt: „Wir sind fertig!“ Ich kann es gar nicht glauben. Da muss doch Zeit abgelaufen sein, während meine stehengeblieben ist. Offenbar ist etwas geschehen: Meine linke Schulter ist dick eingepackt.

In der nächsten Stunde liege ich zitternd da. Lauter zitternde Körper liegen in diesem Raum, denn operiert wird wie am Fließband in zwei OP-Sälen. Ein Assistent erklärt mir, dass das Narkosemittel über die Haut ausgeschieden werde. Deshalb das Zittern. Aber ich glaube, wir alle zittern unter unseren Decken, weil wir aus der Zeit gerutscht sind und uns erst wieder mit dem Weltenlauf synchronisieren müssen.

Nach zehn Tagen zog meine Hausärztin mir die Fäden. Da verheilen drei kleine Einschnitte in der Schulter. Man hat mich „minimalinvasiv“ operiert, eine erstaunliche Technik, die geschickte Chirurgen verlangt. Meiner wurde mir von einem Orthopäden empfohlen, der selber „nur Knie“ macht. „Wenn ich was an der Schulter hätte, würde ich zu Dr. A. gehen. Der macht die Operation in zwanzig Minuten.“ Meine OP begann um 11 Uhr und endete laut OP-Bericht um 11:10 Uhr! Das ist wohl neuer Rekord.


Nur donnerstags Altpapier bringen! Oder besser nie!- Foto: Trithemius (Größer: Klicken)

In der Nacht hatte ich starke Schmerzen. Tagsüber Weltschmerz. An der Straßenbahnhaltestelle beim Kiosk sah ich gestern einen Aufsteller mit der neuesten SPIEGEL-Ausgabe. Darauf der hemdsärmelige griechische Premier Alexis Tsipras, getitelt: „Der Geisterfahrer.“ Welch ein Drecksblatt der SPIEGEL geworden ist! Reiht sich gleich ein in die Phalanx der Unmenschen. Was sind das nur für Leute, die schon jetzt die lobenswerten Absichten des neuen Premier mit Häme begleiten? Hartherziges, neoliberales Pack! Sitzen bequem und wohlbestallt in ihren Schreibtischsesseln und stören sich daran, dass Tsipras die vom Würgegriff der Troika angerichtete Not und Verzweiflung der kleinen Leute lindern will. Die desolaten Zustände in Griechenland können ihnen nicht entgangen sein, auch nicht, dass die gnadenlosen Sparzwänge zu Lasten der Menschen ging, die schuldlos sind am Desaster Griechenlands. Denn mit unseren Steuermilliarden wurden Banken und ausländische Investoren gerettet. Dass damit jetzt Schluss sein soll, auch Schluss mit den Privatisierungen, was ja nur ein Euphemismus für die Ausplünderung eines Landes ist, begrüße ich von Herzen.

Naja, ich bin vorerst mal raus, fahre in meine alte Heimat Aachen zur Anschlussheilbehandlung. Damit ich nachher wieder ordentlich was schultern kann. Guten Tag!

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