Neun Jahre verrückt sein – Abschied vom Teppichhaus

Liebe Leserin, lieber Leser! Liebe Freundinnen und Freunde dieses Blogs!

Ob ich denn ein richtiges Teppichhaus hätte, fragte mich einmal Finchen aus der Biobäckerei. „Nein.“ „Dann verkaufst du Teppiche, quasi als fliegender Teppichhändler?“ „Nein. Ich habe nichts mit Teppichen zu tun. So heißt nur mein Internetblog.“ Na, der hat wohl einen veritablen Knall, wird sie gedacht haben. Selbst als ich Jahre später als reisener Internetdichter mit dem Fahrrad von Hannover nach Aachen gefahren bin (dokumentiert samt Leseprogramm in dem E-Book „Pataphysische Geheimpapiere“), begegneten mir nicht viele Leute, die mit dem Begriff Blog überhaupt etwas anfangen konnten.

Einzig die Journaille hat Blogs und Blogger schon früh wahrgenommen, und zwar als Konkurrenz und Bedrohung ihrer Oberhoheit über die Köpfe mithin ihres Arbeitsplatzes. Blogger seien, schreibt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel, „entpolitisierte, zumeist pseudonyme Existenzen, die einen Kulturkampf angezettelt“ hätten.

„Ein Ausmaß von Geschwätzigkeit, offenbar in der Hoffnung verfasst, erst gar nicht gelesen zu werden“, fand Wolf Schneider, Stilpapst des Journalismus, in Blogs. Meine Entgegnung war nicht in die Luft geschrieben. Wenig später schickte Ehefrau und Zuarbeiterin Lilo Schneider mir eine E-Mail mit einem Brief im Anhang, worin sie mir mitteilte, ich solle mich doch nicht so aufregen, denn ich sei mit der Kritik gar nicht gemeint. Sie stellte einiges richtig, was ich getreulich im Teppichhaus weitergab, und äußerte den Wunsch nach einem brieflichen Austausch zum Thema Blogs und Blogger. Der Austausch ging über einige Monate, war aber offenbar für beide Seiten wenig fruchtbringend. Wohl aber köstlich amüsiert haben die Schneiders sich über oben verlinkten Nettesheimplausch.

Für mich war der Kontakt ein schöner Sekundäreffekt meines Bloggens. Denn ich muss zugeben, Wolf Schneiders unzählige Bücher über guten Schreibstil früher mit Gewinn gelesen zu haben. Von den vielen Sekundäreffekten seien einige genannt: Entstanden sind inzwischen fünf empfehlenswerte E-Books (siehe Randspalte). Eine Computergrafik aus dem Teppichhaus ziert mehrere Deutsch-Schulbücher des Schroedel Verlags.


Startgrafik von Jules van der Ley (Trithemius) für den Abschnitt „Schreiben“ im Sprach- und Lesebuch, „Deutsch – Ideen“ von Schroedel/Westermann, Stufe 7

Ein anderer Sekundäreffekt entstand aus einem Text über Handschrift. Er brachte mir viel Anerkennung, einen Hinweis bei Wikipedia, diverse Abdrucke in Fachpublikationen, sogar Honorar, und letztlich einen kleinen Lehrauftrag an der Bauhaus Universität Weimar zum Thema Handschrift ein, weshalb ich mich ab morgen eine Woche dort aufhalte.

In der Fülle kaum zu benennen sind die vielen Freundschaften und Kontakte, die in neun Jahren Teppichhaus Trithemius entstanden sind, auch wieder verloren gingen, gute Freundschaften und Kontakte weit über Alters- und Ortsgrenzen hinaus. Gerade diese Kontakte machten gut 50 Prozent meiner Motivation aus. Die anderen 50 Prozent waren überwiegend meiner Begeisterung für das junge Medium geschuldet. Wenn ich das Teppichhaus jetzt aufgebe, dann mit großem Bedauern darüber, dass das Medium in seiner Bedeutung bereits absinkt, aber letztlich hinsichtlich seiner innewohnenden Möglichkeiten nicht ausgeschöpft ist.

Das Teppichhaus war immer mein soziales Kunstprojekt. Und wer hier kommentierte hat oder an einer der vielen Aktionen teilnahm wie dem A-Flashmob, ist Teil des sozialen Kunstwerks. Darum bleibt es natürlich auch stehen. Ein Leser lobte das Teppichhaus einmal „das schönste Teppichhaus nach dem ANO-Teppichladen“ (aus Eckhard Henscheids wunderbarem Roman „Geht in Ordnung – sowieso – – genau.“) Teppichhaus Trithemius ist mit seiner verrückten bildhaften Pseudoexistenz in drei Filialen (mitsamt Filialleiterin Frau Nettesheim, dem gewissenlosen Volontär Hanno P. Schmock, den chronisch arbeitsscheuen Teppichhaus-Humorexperten, dem inzwischen real verstorbenen dubiosen Professor Jeremias Coster) leider an seine Grenzen gestoßen. Vor allem das Kurzatmige der Blogtexte und die drängende Tagesaktualität schrecken mich. Ich werde gewiss woanders etwas Neues machen und hier Bescheid geben. Bis dahin danke ich allen treuen Freundinnen und Freunden, Kundinnen und Kunden für die vielen schönen, anregenden und erbaulichen Stunden, die wir miteinander hatten.

Wir lesen uns vorläufig hier,
Ihr und euer

Musiktipp
SX
Graffiti

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29 Kommentare zu Neun Jahre verrückt sein – Abschied vom Teppichhaus

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