Schmocks Trendkompass Oktober – Pröll

Nicht immer Scherz treiben
Der Verstand eines Mannes zeigt sich im Ernsthaften, welches daher mehr Ehre bringt, als das Witzige. Wer immer scherzt, ist nie der Mann für ernste Dinge. (…) Nie weiß man, ob er bei Vernunft spricht, welches so viel ist, als hätte er keine. Nichts geziemt sich weniger, als das beständige Schäkern. Manche erwerben sich den Ruf, witzige Köpfe zu seyn, auf Kosten des Kredits für gescheute Leute zu gelten. Sein Weilchen mag der Scherz haben, aber alle übrige Zeit gehöre dem Ernst.

(Baltasar Gracian; Handorakel und Kunst der Weltklugheit)

Zum Auftakt deshalb ein ernstes Thema: „Der Suicid ist bei uns in Deutschland nicht strafbar“, sagte fast bedauernd der Ex-SPD-Vorsitzende Franz Müntefering bei Günter Jauch zum Thema „Gibt es ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben?“ Es wird Jauch oft vorgeworfen, zu seicht zu sein und nicht die richtigen Fragen zu stellen. Hier zeigte sich ein Beispiel, da er nämlich nicht auf das Ungeheuerliche hinter dieser Feststellung eingegangen ist und versäumt hat zu fragen, „ja, wo denn? Wo um Himmels Willen ist Suicid strafbar?“ Im finsteren Transsilvanien treibt man dem Toten einen Pflock ins Herz, aber nicht zur Strafe, sondern damit er kein Wiedergänger wird und die Lebenden plagt. Anderswo in Europa ist es in der Vergangenheit vorgekommen, dass man der Leiche des „Selbstmörders“ zur Strafe den Kopf abgeschlagen hat, um ihn per Eselsbegräbnis an der Hecke zu verscharren. Es wäre doch interessant zu wissen, ob in Münteferings sauerländischer Nuss noch solche Ideen herumschwirren, wenn er sich schon im TV als moralische Instanz aufspielen darf.

Manchmal fühle ich mich, und ist erst Ende Oktober, so richtig an den Weihnachtsmarkt erinnert. Was mein Weihnachtsmarktgefühl befeuert, sind die hübschen Stadtmöbel, die im Straßenbild auftauchen, als wären sie vom Himmel gefallen, und, weil keiner den Kopf rausstreckt und gehäkelte Topflappen oder kandierte Tannenzapfen anbietet, vermutlich von Transportdrohnen über Nacht abgesetzte Klohäuschen sind. Allein im Stadtteil Hannover-Linden stehen so viele davon rum, dass man glatt eine ganze Klosiedlung daraus zusammenstellen könnte, mit einer Hauptstraße, einem zentralen Markt und einigen Nebenstraßen. An den Stadttoren wird Maut erhoben, und wer bezahlt hat, darf so viele Häuschen voll scheißen, wie er kann. Man möge sich die Einzelheiten des Geschehens selber ausdenken.

„Ich möchte bloß nicht stundenlang stehen bleiben vor Sachen, die mich überhaupt nicht interessieren. Ginge das?“, fragt ein junger Mann seine Freundin barsch. Sie antwortet nicht, ist eingeschnappt. Wegen des Konjunktivs vermutlich. Der Konjunktiv hat beim Trödelmarkt auf dem Parkplatz von Real nichts zu suchen und verdirbt nur die Laune. Im Rheinland heißt Trödel abwertend „Pröll“ Es passt gut, weil das Wort sich hübsch an den „Proleten“ anlehnt. Proleten kaufen oder verkaufen Pröll. Im Gegensatz zum feinen hannöverschen Altstadtflohmarkt, sind Parkplatz-Trödelmärkte Pröllmärkte. Man sollte sich die Leute hinter den Ständen gar nicht ansehen und die potentiellen Kunden besser auch nicht. Hallo? Ich war vielleicht zufällig da?

Die meisten Händler bieten rottigen Pröll, den ich vermeiden würde anzufassen. Ich hätte Angst, ich krieg Plaque am Mund. Manche bieten auch fabrikneuen Sperr- und Kleinmüll an. Irgendwo auf der Welt, man möchte lieber nicht wissen wo, stehen Fabriken, in denen Arbeitssklaven Pröll für deutsche Trödelmärkte herstellen und in Plastik einschweißen. Aber wo in Gottes Namen findet man gut 30 große Kartons randvoll mit Kleinpröll, „jedes Teil nur 50 Cent“? In aufgelösten deutschen Haushalten vermutlich. Man müsste mir schon Geld geben, damit ich überhaupt in diesem wild zusammen gekippten Scheißdreck wühlen wollte. Die deutsche Bundeskanzlerin Frau Merkel betont ja immer wieder, Deutschland ginge es gut. Vermutlich ist sie noch nie auf einem dieser Parkplatz-Pröllmärkte gewesen. Dann bekäme sie eine Vorstellung davon, was manche Deutsche so zu Hause haben und wie erbärmlich und armselig das ist.

Hoffentlich auch nur ein Zerrbild von Deutschland bieten die Spaßvögelschwärme, die durch Fernsehstudios flattern. Auf fast allen Kanälen haben so genannte Comedians eigene Shows, in der weitere, mir bislang zu Recht unbekannte Comedians auftreten. Wer schon mal einen Witz gemacht hat und sonst nichts kann, geht zum Kumpel Spaßvogel ins Fernsehen und zieht seine Nummer ab. Die vielen Fernsehauftritte haben auch das Aussehen des typischen Spaßvogels verändert. Früher traten die gewerbsmäßigen Spaßmacher grundsätzlich im zu engen T-Shirt auf. Das T-Shirt war das Gefieder des Spaßvogels. Doch in letzter Zeit sieht man sie auch im Anzug, was ihren sozialen Aufstieg kennzeichnet. Warum auch nicht? Viele von ihnen treten nicht nur im Fernsehen auf, sondern füllen gigantische Hallen. Mario Barth, der König aller Spaßvögel, füllt sogar das Berliner Olympiastadion. Das deprimiert. Deprimierend ist auch die rasende Popularität von Bauchrednern. Ich sah jetzt schon mehrfach einen mit einer Riesenschildkröte, die Zigarre rauchte und großkotzig tat. Die Leute kriegten sich nicht mehr ein vor Begeisterung.

Ich halte in diesem Publikum immer Ausschau nach solchen, die lachend den Kopf schütteln, was eine besondere Form der närrischen Überwältigung anzeigt, die ich noch nicht genau benennen kann. Aber ich komme noch dahinter.

Tröstlich ist nur eins: Würden Cindy aus Marzahn, Mario Barth, Dieter Nuhr und Konsorten an einem Sonntagnachmittag auftreten, blieben Stadion und Hallen leer. Dann drückt sich nämlich ihr Publikum schlechtgelaunt auf Parkplatz-Prollmärkten rum.

Tröstlich war auch das Titanic-Cover im November 2005: „Spaßvogelgrippe erlöst Deutschland! – Hurra! Erste Opfer!“ Heute wissen wir: Das war Wunschdenken, ihr Opfer!

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