Volontär Schmocks Trendkompass – alles selbstgenäht

Heute war in meinem Spam-Ordner eine Mail mit dem Betreff „wichtig“. Ich habe sie unbesehen gelöscht. Armes Wort. Es hat es immer schwer gehabt. Ist es doch schon früh verwaist. Das Adjektiv „wichtig“ stammt ab von dem im Mittelhochdeutschen untergegangenen Substantiv Wicht (engl. weight) und der hochdeutschen Präfixbildung „Gewicht“. Sein unangenehmer Onkel ist der Wichtigtuer. Auch der blödeste Spammer sollte inzwischen gemerkt haben, dass wichtig längst eine negative Konnotation hat und sich vorab schon als Lüge entlarvt, wenn es an einer E-Mail klebt, die bekanntlich überhaupt kein Gewicht hat.

Lang ist’s her, da gab es an Gymnasien in NRW das Fach Textilgestaltung. Es gehörte wie Werken zum Fachbereich Kunst. Ich war Referendar an einem Mädchengymnasium und habe einmal in einem Textilgestaltungskurs hospitiert. Die etwa 16-jährigen Mädchen nähten Schürzen. Das spricht schon mal gegen das Fach, dachte ich damals. Aber dass es bald abgeschafft wurde, damit hatten ich und die Schürzen nur indirekt zu tun. Ende der 70er des letzten Jahrhunderts schwappte die Emanzipationsbewegung gleich einem Tsunami über die Gesellschaft, wirbelte alles durcheinander, legte Mädchengymnasien flach und riss Schürzen, das Fach Textilgestaltung und andere anheimelnde Sachen mit. Sogar Stricken, womit alles angefangen hatte, kam aus der Mode.

„Auf dem Höhepunkt der Emanzipationsbewegung hatte so ziemlich jede Frau gestrickt, die etwas auf sich hielt. Frauen saßen nicht nur strickend in den Frauenteestuben, in denen kein Mann geduldet war, selbst nicht männliche Säuglinge im Kinderwagen. Sie strickten in den Seminaren, saßen da in ihr Strickzeug versunken, dass man dachte, die kriegen nichts mit, aber ab und zu hob eine den Kopf und gab ein harsches Statement gegen Frauendiskriminierung durch die männliche Sprache ab. Geblieben sind das scheußliche Binnen-I und noch scheußlichere Doppelformen wie Verwaltungsinspektoranwärter und Verwaltungsinspektoranwärterinnen. Und nicht zuletzt: Feministische Linguistik! Alles nebenher herbeigestrickt.“ (Tante Liesels Erbinnen)
Mit dem Fach Textilgestaltung kam auch Selbstgestricktes und Selbstgeschneidertes in den 80-ern völlig aus der Mode. Zu lange hatten Frauen ausgesehen wie wandernde Altkleidersammlungen. Sobald Frauen sich ausreichend emanzipiert hatten, ließen sie in ihrem Eifer ab und von anderen Frauen nähen, vornehmlich in Indien oder Bangladesh, hehe.

Alles kommt wieder, wenn auch gewandelt. Plötzlich tauchte das verschnarchte Stricken als Urban Knitting wieder auf, ausgeübt von Strickguerilla-Aktivistinnen. Voll im Trend liegen auch Strickblogs wie angela und Stickblogs wie Kissy-Cross, Selbermachen-Modeblogs wie dawanda , Nähkurse und –kreise. Frauen nähen und stricken, ja spinnen und färben ihre Wolle selbst, aber nicht aus Solidarität mit den Näherinnen in Bangladesh, sondern um individuelle Outfits zu gestalten. Man möge mir verzeihen, doch als ich obige Nähstunde bei Studio Brussel im Internet gesehen habe, wurde ich an die anheimelnde Stimmung beim Schürzennähen im Kurs Textilgestaltung erinnert, an die angenehme Ruhe, die lässige Zielstrebigkeit, das geschickte Hantieren, an das gelöste Plaudern, an die neidlose Anerkennung fremder Leistungen, wie ich sie nur in einer Frauengruppe mir vorstellen kann.

Eine neue Ermittlungstechnik per SMS hat die Polizei von Asse (Flandern) nach einer Schießerei am Brüsseler Autobahnring eingesetzt. Da es in unmittelbarer Nachbarschaft des Tatorts keine Anwohner oder Passanten für eine normale Zeugenbefragung gab, hat das Gericht des Brüsseler Vororts Halle-Vilvoorde der Polizei erlaubt, 1400 Personen per SMS zu befragen, deren Mobiltelefon zur fraglichen Zeit in der Nähe des Tatortes lokalisiert worden war.

Die Schießerei fand zwischen 22.15 Uhr und 22.40 Uhr auf einem Parkplatz am Autobahnring statt. Das Opfer war ein 41-jähriger Pannenhelfer aus Kasteelbrakel. Er arbeitete nicht etwa für den ADAC, sondern für einen Pannendienst aus Nijvel. Als er einem liegen gebliebenen Autofahrer geholfen hatte und wieder auf die Autobahn zurück wollte, wurde sein Fahrzeug beschossen. Eine Kugel traf ihn in den Rücken. Der Mann wurde in kritischem Zustand ins Krankenhaus gebracht, konnte es aber inzwischen wieder verlassen. (Quelle: De Redactie.be)

Wer noch nie das Gelüst verspürt hat, einem Pannenhelfer in den Rücken zu schießen, könnte diese für die ermittelnde Polizei wichtige SMS-Befragung mit einem Schulterzucken abtun. Ich kann mir aber einige Gründe denken, warum jemand nicht erklären wollte, was er dann und wann, da und dort gemacht habe, harmlose, aber auch den Job oder eine Beziehung gefährdende. Schon die Tatsache, sich erklären zu müssen, ist durchaus unerfreulich, wenn man beispielsweise nur unterwegs war, um als Mann einen Nähkurs zu besuchen.

Musiktipp
Gabriel Rios
Gold

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