Einiges über das menschliche und das technische Maß

Neulich ist mir aufgefallen, wie ich mir Entfernungen räumlich vorstellbar mache. Ich greife zurück auf frühe, quasi kindliche Erfahrungen. Zwischen unserem Dorf und dem Bahnhof des Nachbardorfes lagen zwei Kilometer. Die Strecke bin ich gegangen, wann immer ich mit dem Zug fahren wollte, beispielsweise nach Köln. Die Entfernung nach Köln betrug 20 Kilometer. Bei klarer Sicht konnte man über die Felder hinweg ganz schemenhaft den Kölner Dom sehen. Die Kreisstadt Grevenbroich war zwölf Kilometer entfernt. Da war das Freibad, und ich bin mehrmals mit dem Fahrrad hingefahren. Zum Kloster Knechtsteden mit seiner Klosterschule radelte man sechs Kilometer.

Noch heute breche ich Entfernungsangaben auf diese vier Koordinationspunkte herunter. Das korrespondiert natürlich überhaupt nicht mit Erfahrungen, die man bei einer Reise mit modernen Verkehrsmitteln macht. Eine Weile fuhr ich mit dem ICE von Hannover nach München und zurück. Interessanter Weise ließ die Aufmerksamkeit für die Strecke in der Weise nach, in der sie die mit Sinnen erfassbaren Bereiche überstieg. Letztlich hatte ich jedes Mal etwa vier Stunden im Zug gesessen, konnte mir aber die zurückgelegte Entfernung nicht vorstellen.

Auch kleine Dimensionen stelle ich mir bezogen auf frühe Erfahrungen vor. Dabei hilft mir das typographische Maßsystem nach Didot, auch Abstände unterhalb eines Millimeters einzuschätzen. Ich lernte es in meiner Schriftsetzerlehre kennen, die ich mit 13 begann: Das typografische Maß ist ein 12er System. Die kleinste Einheit heißt Punkt. Zwölf Punkt sind ein Cicero. Hätte ich jetzt eine Metzgerlehre gemacht, würde ich vermutlich alles auf die Dicke einer Wurstscheibe beziehen. Will sagen: Unsere Welt ist zunehmend von Dimensionen der Hochtechnologie bestimmt, doch unser Welterleben ist bestimmte von einfachen Erfahrungen, die uns die Bezugspunkte liefern.

Das typographische Maß ist eine Einteilung nach dem Pariser Schriftgießer Didot (1795). Grundlage ist das französische Zoll. Die kleinste Einheit ist der Punkt, die höhere das Cicero, 12 Punkt = 1 Cicero. Die genaue Stärke eines Punktes beträgt 0,376065 mm, das heutige Rechnungsmodul hat 0,375 mm, demnach ist 1 Cicero gleich 4,5 mm. Das typographische Maß bietet feinere Differenzierungen als das metrische und ist als 12er-System praktischer, wenn es um die gleichmäßige Raumverteilung geht, da 12 häufiger teilbar ist als 10, nämlich durch 1, 2, 3, 4, 6, 12. Die typographische Meßleiste heißt Typometer. Moderne Typometer haben typographische und metrische Einteilung. Ein Scherz unter Schriftsetzern der Bleizeit: „Rutsch mal ein Cicero zur Seite!“

Die Etymologie von „Cicero“ ist unklar. Entweder ist es nach dem Erstdruck der Briefe Marcus Tullius Ciceros von 1466 durch den Frühdrucker Peter Schöffer oder nach dem Schriftschöpfer Hans Cicero (16. Jh.) benannt. Alle im Bleisatz gängigen Schriftgrößen tragen Namen. Die Größenangaben beziehen sich auf den Schriftkegel, also auf die Ausdehnung des Bleikörpers. Das Schriftbild ist jeweils kleiner. Gedruckte Schrift wird deshalb vom Kopf der ersten bis zum Kopf der zweiten Zeile gemessen. Ein korrektes Ergebnis kommt aber nur heraus, wenn die Zeilen kompress, also ohne Durchschuss gesetzt sind.

Mit den Satzkomposern und Satzcomputern drangen inden 70ern auch das amerikanische Pica- und Point-System nach Europa vor. Um der Maßverwirrung zu begegnen, einigten sich die deutschen Typographen 1978 auf das Dezimalsystem. In der Praxis konnte es sich nur bedingt durchsetzen, so dass die Situation eher verschlimmert wurde. Der Einsatz des Personal-Computers in der Typographie hat die Verwirrung potenziert. Dies liegt besondersan der sehr stark unterschiedlichen Auslegung von Soft- undHardware. Man kann hier die Maßangaben nur als Erfahrungswerte benutzen, da die Darstellung der Schriftgrößen am Bildschirm nur selten exakt dem späteren Ausdruck entspricht. Das Prinzip „What You See Is What You Get“ ist im halbprofessionellen Bereich kaum einzulösen.

Musiktipp
Royal Blood
Figure It Out

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