Nicole hört auf sich selbst

Es ist gewiss ein Vorurteil, und ich bin erstaunt, dass es noch bestätigt wird, aber die Friseurin, die mich am Samstagvormittag nach langer Wartezeit in den Frisurstuhl bittet, stellt sich vor mit Nicole. Früher, ja früher habe ich gedacht, dass Nicole der passende Name für eine Friseurin ist, aber jetzt denke ich das nicht mehr. Die Zeit rollt über alles hinweg, auch über die Moden von Vornamen. Und dann kommt diese junge, ranke Frau, reicht mir die Hand und stellt sich vor mit Nicole. Und ist nicht mal blond. Na gut. Ich lasse mir nichts anmerken. Nach etwa zwanzig Minuten bin ich recht zufrieden mit Nicoles handwerklicher Leistung.

„An den Seiten und hinten kurz, oben lang lassen!“, hatte ich mir ausbedungen. „Wie kurz?“ „Zwei Millimeter?“ „Das ist aber schon nah an der Glatze“, sagt Nicole. „Wie lang ist denn an den Wangen mein Bart?“ „Acht Millimeter“, schätzt sie. „Also gut, dann als Kompromiss fünf Millimeter.“ Wie sie mit mir fertig ist, lobe ich ihr Werk, und sie sagt: „Ich habe auf mich selbst gehört und sechs Millimeter genommen!“ Prima! Mir scheint, das ist der Unterschied. Früher hätte eine Nicole gewiss nicht gewagt, den Kundenwunsch zu verbessern und das auch noch zuzugeben.

Derweil ist draußen auf der Limmer ein großes Werkeln und Hantieren, das Limmerstraßenfest in Vorbereitung. Frühe Festbesucher schieben sich vorbei. Ich sehe rote Luftballons an Kinderhänden zappeln. In weißen Groteskbuchstaben steht SPD drauf. „Wie finden Sie, dass Parteien Luftballons an Kinder verteilen?“ „Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer SPD wählt, weil hier Kinder mit SPD-Luftballons rumlaufen.“
„Warum machen die das dann?“ „Keine Ahnung!“
Ich belästige sie nicht weiter. Es geht schließlich um meinen Haarschnitt. Zielen die Parteien mit den Ballons auf die Herzen der Kinder? In einigen Jahren stehen die in der Wahlkabine und kreuzen SPD an, weil sie sich erinnern, „Ach, von denen bekam ich mal auf dem Limmerstraßenfest einen Luftballon. Wenn ich die wähle, gibt’s bestimmt noch mehr Luftballons.“ Jawohl, das ist die Botschaft: Demokratie ist, wenn Parteien Luftballons verteilen. In Sachsen, ist zu lesen, lag die Wahlbeteiligung zu den Landtagswahlen bei 48 Prozent. Eine skandalöse Geringschätzung von Luftballons durch die undankbaren Sachsen.

Nachdem Nicole mir die Haare geschnitten hat, kaufe ich am Stand eines Buchantiquars für zwei Euro ein zweibändiges Werk und trage glücklich Rolf Hochhuth (Hrsg.); „DIE GROSSEN MEISTER – Deutsche Erzähler des 20.Jahrhunderts“ nach Hause. Die Bände standen in meiner Kindheit im Bücherregal meiner Mutter. Sie war Mitglied im Bertelsmann Lesering und vergaß regelmäßig, sich Bücher auszusuchen. Dann schickte Bertelsmann eben nach Gutdünken was. Einmal die Meistererzähler. Diese Leute haben mich immer ganz ehrfürchtig gemacht, wenn ich in den Büchern schmökerte. Und ich träumte davon, einmal so schreiben zu können wie sie, dass mich der Bertelsmann Lesering als Großen Erzähler ausschickt, um etwas zur Volksbildung zu tun.

Damals hatte der Name Bertelsmann noch einen guten Klang. Damals propagierte die Bertelsmannstiftung noch nicht den blanken Neoliberalismus. Heute hat Bertelsmann unsere politische Kaste vereinnahmt, so dass wir noch wählen können zwischen roten, gelben, grünen, blauen oder furzkarierten Luftballons. Falls wir uns überhaupt für Luftballons interessieren.

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