Fräulein Petrol

Ist Fräulein Petrol etwas zugestoßen, ist sie etwa krank? Oder ist sie einfach nur umgezogen? Das wäre freilich nicht unbedingt zu ihrem Schaden, denn das düstere Nachbarhaus, in dem Fräulein Petrol wohnt, hat keine guten Schwingungen. Wochen schon hatte ich mich nach ihrem Verbleib gefragt, ja, mich ehrlich gesorgt. Doch vor einigen Tagen, es regnete in Strömen, da kam Fräulein Petrol rauchend den Fußweg hoch, eine helle Tasche mit offenbar geringem Einkauf geschultert, die glühende Zigarette zum Schutz vor dem Regen in der hohlen Hand verbergend. Dann stellte sie sich kurz bei den Bäumen unter und rauchte hastig.

Sie heißt natürlich nicht wirklich Petrol. Die Farbe ihres Hoodies heißt Petrol. Die junge Frau ist mir vor einem Winter schon aufgefallen. Sie hat aus der Ferne große Ähnlichkeit mit einer Hannoveraner Exfreundin. Die hat auch immer so finster geschaut, was aber nichts mit mir zu tun hatte, sondern mit dem Haufen großer Probleme in ihrem Leben. Und ein petrolfarbenes Sweatshirt hatte sie auch, desgleichen die Marotte, in bestimmten Epochen immerzu dieselben Kleidungsstücke zu tragen, obwohl ihr Kleiderschrank voll war. Ob Fräulein Petrol überhaupt etwas anderes hat als das petrolfarbene Sweatshirt, weiß ich freilich nicht. Ich vermute das Gegenteil. An sonnigen Tagen trägt sie eine helle Jacke. Darunter aber immer das petrolfarbene Sweatshirt. Vielleicht erinnert es sie an bessere Zeiten.

Im tiefsten Winter sah ich Fräulein Petrol fast täglich irgendwo unter meinen Fenstern stehen und rauchen. Dabei hatte sie nie etwas anderes unter ihrem unförmigen Mantel als das petrolfarbene Sweatshirt. Ihre Füße steckten in noch unförmigeren, ausgetretenen Fellstiefeln. Bald begann ich sie zu bedauern. Offenbar war sie eine Stressraucherin, und ihr Herumstehen auf der Straße bei Wind und Wetter war wie eine kleine Flucht vor etwas in ihrem Heim, das sie belastete. Wovor flieht sie wohl und kehrt doch immer wieder in dieses Leben zurück? Hätte sie ein krankes kleines Kind, müsste sie ja irgendwann mit diesem Kind aus dem Haus. Aber noch nie habe ich Fräulein Petrol in Begleitung gesehen. Einmal sah ich sie im Supermarkt. Sie hatte gerade etwas zu 2,90 Euro gekauft, mit finsterer Miene passend bezahlt und war schon einige Schritte weg, da rief der Kassierer sie zurück und wollte ihr auf einen Zwanzig-Euro-Schein herausgeben. Als sie den Irrtum richtig stellte, sah ich sie erstmals lächeln.

Mag sein, dass ich sie anfangs angestarrt habe, wenn ich ihr vor dem Haus begegnete und sie meiner Exfreundin so ähnlich fand. Jedenfalls mied sie meinen Blick. Während meiner Arbeit am Rechner stehe ich gelegentlich auf und schaue aus dem Fenster. Wenn Fräulein Petrol dann draußen steht, trete ich immer vom Fenster weg, damit sie sich von mir nicht beobachtet fühlt. Letztens aber ging ich mit der Kamera nach draußen, um vor dem Haus einen Müllberg zu fotografieren. Da stand Fräulein Petrol und rauchte. Ich sagte: „Ich will doch mal den Müll fotografieren, der sich hier schon seit Wochen stapelt.“ Darüber kamen wir ins Gespräch. Seither grüßen wir uns. Aber inzwischen stelle ich fest, dass sie mir ausweicht, sich beispielsweise abrupt herumdreht, wenn ich unvermutet aus der Tür trete.

Letzte Nacht habe ich von ihr geträumt. Zwei Krankenschwestern kamen und sagten, sie müssten mir die Augen herausholen. Eine davon war Fräulein Petrol. Ich wusste nicht, wozu diese Operation nötig war, zumal nicht die geringste Narkose vorgesehen war. Ich hielt Fräulein Petrol bei der Taille umfasst und beugte mich ängstlich vor. Meine linke Hand suchte die ihre, während die zweite Krankenschwester mir einen Teelöffel unter die Augenlider schob und meine Augen herausschälte. Wie das genau zuging, konnte ich natürlich nicht sehen. Aber es ging relativ flott und tat nur ein bisschen weh. Dann wussten die beiden nicht mehr weiter. Meine gewiss blutigen Augäpfel wurden in eine kleine Box gesteckt. Sie führten mich durch die Stadt Bayreuth, um einen bestimmten Arzt zu befragen, was jetzt zu machen wäre. Seltsam genug konnte ich ein wenig sehen, zumindest den Müll auf Bayreuths Straßen. Überhaupt fand ich die Stadt sehr hässlich, jedenfalls dort, wo die beiden Krankenschwestern mich herumschleppten.

Heute Morgen wunderte ich mich, meine Augen im Kopf zu haben. In Bayreuth bin ich übrigens nie gewesen. Mein Lexikon der Traumsymbole sagt: „Die Augen verlieren = Liebesleid.“ Wenn ich EIN Problem derzeit nicht habe, dann das. Nur darf ich vor dem Schlafen keinen Rotwein trinken.

Musiktipp
The Kooks
Around Town

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