Steifbeinig im Regen und Müllsammeln aus Leidenschaft

Zu den Mysterien meiner Straße gehört der lange Mann mit dem steifen Bein. Meistens ist er mit einer Frau unterwegs. Beide sind ausgesucht gut gekleidet. Fast immer trägt er einen Stoffbeutel in der linken Hand, die Schlaufen um den Handrücken gewickelt. Mit der freien Rechten hebt er Abfall auf. Er kann sich nicht gut bücken, wie überhaupt das steife Bein ihn behindert. Wenn er die Treppen des Fußwegs steigt, dann tritt er so unsicher und wankt dermaßen, dass ich oft fürchtete, er werde hintüber kippen. Auch die Frau liest Müll auf, wie er mit bloßen Händen. Deshalb und wegen ihrer unpassenden Kleidung wirkt die Müllsammelei immer ungeplant.

Heute Morgen wehte der Wind mal wieder Abfall durch die Straße, eine Styroporschachtel aus der Imbissbude, eine weiße Plastiktüte, eine Serviette und einen Prospekt. Ich dachte, dass ich den Mann mit dem steifen Bein schon eine Weile nicht gesehen hatte. Und dachte auch noch, ganz der Ohnemichl: Typisch, wenn der Mann mit seinem steifen Bein gebraucht wird, dann ist er nicht da. Und auch nicht die Frau.

Eben hatte es zu tröpfeln begonnen, wie ein erneuter Blick aus dem Fenster zeigte. Durch den Regen wankte aus der Ferne ein langer Mann heran. Er war nicht gekleidet für den Regen, sondern trug einen blauen Kapuzenpulli, neudeutsch „Hoodie“. Ich erkannte ihn am unsicheren Gang und wie er mit der Linken beim Gehen ruderte. Früher habe ich gedacht, dass der Stoffbeutel gedacht ist, Abfall aufzunehmen und zum Mülleimer zu transportieren. Doch er kam noch nie zum Einsatz, war auch diesmal zusammengedreht. Möglicherweise steckt eine kleine Hantel darin, denn offenbar muss der Mann mit dem linken Arm rudern, um die ungeschickt zagenden Bewegungen seines steifen Beins auszugleichen.

Der Mann klaubte einen nassen Papierfetzen von einer Treppenstufe, dann wankte er auf den seitlichen Zaun zu und hob ein Stück weißes Plastikband auf, das einem Prospektverteiler wohl davongeflogen war. Ich trat ein wenig zurück, damit der steifbeinige Müllsammler mich nicht beim Beobachten erwischen konnte. Als er genau unter mir war, sah ich, dass er, obschon steif, nicht so alt war, vielleicht Mitte vierzig. Eventuell schätzte ich ihn auch zu jung ein wegen des dunkelblauen Hoodies, der ihm ein wenig zu klein war, wie beim Waschen eingelaufen. Der Mairegen lässt ja alles Lebendige wachsen. Man soll bei Mairegen ruhig die Kinder rausschicken, damit sie nicht zu mickrig bleiben. Ich weiß ja nicht, wie lange der Steifbeinige schon im Mairegen umherwankte. Möglicherweise war er just erst aus dem Hoodie herausgewachsen?

Egal. Ein Prospektverteiler schob gerade einen Aldi-Einkaufswagen voller Prospekte um die Ecke und öffnete einen neuen Packen. An seiner Stelle hätte ich ein Teppichmesser bei mir, er aber zog einfach so lange, bis das umgebende weiße Plastikband riss und auseinander schnellte. Der Steifbeinige hatte also hier einen Verursacher vor sich. Lächelte den aber an, sagte etwas Unverfängliches und wankte weiter zum Mülleimer an der Straßenlaterne, um seine Sammlung zu entsorgen. Da lehnt seit Tagen ein blaues Damenfahrrad. Der Steifbeinige hat es letztens aus dem Gebüsch geholt, wo es verwaist gelegen hatte. Dazu musste er das Fahrrad über einen halbhohen Holzzaun wuchten, wobei er gefährlich ins Wanken geriet. Trotzdem sah er es als seine Aufgabe an, das Gebüsch vom Fremdkörper Fahrrad zu befreien.

Mein Türnachbar Markus hat mich schon mal gefragt, ob ich wisse, warum der Steifbeinige und seine Partnerin in der Gegend den Müll aufheben. Ich verneinte. Es ist eben ein Mysterium. Und ich werde mich hüten, es zu banalisieren.

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