Die Epoche des Banalen und die Küchen von Pangaea (1)



EIN BANALER ESSAY

Will, ein Freund, der als Deutscher in Belgien lebt, wollte mir Lüttich zeigen, die ehemals stolze Stadt an der Maas. Lüttich hat prächtige Gebäude aus der Gründerzeit, Zeugnisse alter Größe, denn einst war Lüttich das Zentrum der florierenden Stahlindustrie der Wallonie. Mit dem Niedergang der Stahlindustrie verfielen auch Teile der Stadt, und so hat Lüttich Pracht und Verfall dicht beieinander.

Es war ein regnerischer Tag. Dunst hing über dem Tal der Maas. Wir hatten uns die Stadt angesehen und bummelten zurück zum Parkplatz. Plötzlich tat sich in der Häuserzeile zu unserer Linken eine Lücke auf, und ich sah eine beinah unfassbar lange Treppe, die wiederum selbst von Häusern gesäumt war. Irgendwo oben im Dunst stieß die Treppe in den Himmel. Ich war begeistert und fragte Will, wo die Treppe hinführt. Er wusste es nicht, wollte es auch gar nicht wissen. Obwohl es regnete, sagte ich, dass ich gerne hinaufsteigen wollte. „Ach, nein“, sagte Will, „dann entzauberst du sie nur.“ Ich hatte mich schon abgewandt, da gab er sich einen Ruck, und wir machten uns an den mühsamen Anstieg über 375 Stufen. Dabei verfinsterte sich seine Laune. Offenbar bereute er, mir nachgegeben zu haben. Als wir oben ankamen, war da nichts Besonderes, ein Platz mit Häusern drumherum. Wir setzten uns auf eine Bank und schauten hinab auf Lüttich und das Maastal. Dieser Blick entschädigte mich für den mühseligen Aufstieg, aber Will war weiterhin ungehalten. Ich hatte ihm die Treppe unwiderruflich banalisiert.

Vorsorglich entschuldige ich mich. Indem ich nämlich hier ein Foto der Treppe zeige, befriedige ich die Gucklust, entzaubere aber die Treppe in der Vorstellung des Lesers. „Ach“, mag einer denken, „die habe ich mir doch länger vorgestellt!“

In meiner visuellen Neugier bin ich schon immer ein gefräßiger Banalisierer gewesen. Nachdem ich von Aachen nach Hannover gezogen war, erkundete ich meine neue Heimatstadt mit dem Fahrrad. Anfangs war das aufregend, denn jede Weggabelung zwang mich zu einer Entscheidung und war begleitet vom Bedauern, dass ich den anderen Weg nicht nehmen konnte. Mit der Zeit fuhr ich die alternativen Abzweigungen oder ich gelangte von der anderen Seite hin und erkannte die Stelle. So löschte ich fast jeden weißen Fleck der Stadt auf meiner inneren Landkarte. Inzwischen habe ich auch Hannover entzaubert. Die Wege sind mir alltäglich geworden. Manchmal langweile ich mich, weil ich genau weiß, bald kommt das, dann diese Kreuzung, jene Engstelle, eine Brücke über die Leine und so fort.

(Ansichtskarte der Montagne de Bueren in Lüttich (Liège) – Größer: Klicken)

Diese Beispiele sollen helfen, den Begriff banal zu klären. Banal ist das Alltägliche, das Selbstverständliche, das ohne Zauber, der wahrscheinliche Ablauf, das 1000mal Gesehene, die redundante Information. In der Kommunikationstheorie ist Redundanz das mehrfache Vorhandensein derselben Information. Wenn Sie das bereits wussten, dann war meine Erklärung für Sie redundant. Wenn ich Redundanz noch mal erkläre, beginnen Sie sich zu langweilen. Als Lehrer hatte ich immer den Ehrgeiz, dass alle mich verstanden. Wenn ich nach einer Erklärung noch immer ratlose Gesichter sah, legte ich den Sachverhalt auf neue Weise dar und war bemüht, so anschaulich zu reden, dass auch die Intelligenten, die beim ersten Mal verstanden hatten, sich wegen der Redundanz nicht langweilten. Was wir den grauen Alltag nennen, ist eine banale Welt, bestimmt durch Redundanz. Banal ist aber auch, wenn ich Ihnen eine Information gebe, die Sie schon ewig haben. Also: Was hier zu sehen ist, sind Wörter. Sie bestehen aus Buchstaben des lateinischen Alphabets.

Kollege Leisetöne hat sich kürzlich über die Timeline mokiert und nennt sie ein bisschen balla balla. Mein Kommentar führt uns zum Thema der banalen Epoche:

Ich glaube, die englische Timeline ist von Facebook eingeführt worden. Gemeint ist tatsächlich eine sich fortschreibende Chronik, auf der man sämtliche (Internet)-Aktivitäten des Betroffenen ablesen kann, soweit er diese Daten freigibt. Auf gut Deutsch müsste das Element Zeitleiste heißen. Die Idee, für Hinz und Kunz eine Zeitleiste anzulegen, geht mit einer Aufwertung des einfachen Menschen einher, indem dessen Biographie überschaubar dargestellt wird. Aber im Gegensatz zur Zeitleiste in Geschichtsbüchern ist die Timeline möglicherweise eine Chronik der Banalitäten, was das Darstellungsmittel Zeitleiste herabsetzt, die Banalität aber zum geschichtsträchtigen Element macht. Warum auch nicht? Wir leben im Zeitalter des Banalen und einer Form des Balla balla, der sich kaum einer entziehen kann.


(aus: Kannibalismus im Zug u. a. Erzählungen, Frankfurt 2010 – größer: klicken)

Die zeitliche Zuordnung einer Biographie auf einer Zeitleiste ist bei einem Autor wie Mark Twain interessant und überhaupt nicht banal. Wenn wir hier eine Zeitleiste mit biographischen Daten von Karl-Heinz Mustermann stünden, etwa:

18. April 2014 – schlecht geschlafen, bis 10 Uhr. Den Tag vertrödelt. Ravioli aus der Dose!
19. April 2014 – Super Pommes mit Josefa bei Burger King München-Lehel!

dann scheint es, als hätte die Banalität sich das Darstellungsmittel Chronik widerrechtlich angeeignet.

Niemand ist je auf dem Superkontinent Pangaea gewesen, denn er existierte als große zusammenhängend Landmasse vor der Entwicklung des Menschen. Kollege Leisetöne aber kann von Pangaea erzählen, als wäre er persönlich darauf rumgelaufen. Das führt uns zu der Annahme, dem Gedankenexperiment, der Mensch hätte vor 150 Millionen Jahren schon gelebt und das Feuer bereits erfunden. Archäologen finden in Höhlen in Afrika, Australien, Süd- und Nordamerika, Europa und Asien die Kochstellen unserer Vorfahren und nahebei die Gruben, in denen die Höhlenmenschen ihre Küchenabfälle entsorgten. Die versteinerten Reste von Knochen und Pflanzen gäben Aufschluss über die Lebensweise unserer frühen Vorfahren und würden gleichzeitig Wegeners Theorie der Plattentektonik bestätigen, indem sich auf allen Kontinenten ähnliche Reste fänden.

Aus historischer Sicht gewinnen die Banalitäten des jeweiligen Alltags eine überindividuelle Bedeutung. Das ist mit unserem Alltag nicht anders. Im zeitlichen Rückblick wird alles wieder interessant, und sollte das Internet noch bestehen, bietet sich den Ethnologen und Historikern des 23. Jahrhundert eine Fülle von Quellen. Aber ist eine Dokumentation unseres Alltags nur aus historischer Sicht nicht banal? (Teil 2)

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