Wahre Geschichten – Dachdecker verliert Geistesgegenwart

Bild vergrößern: Klicken


Die Häuser in
meiner Straße haben allesamt fünf Etagen, inklusiv Dachetage. Schräg gegenüber sehe ich auf dem Nachbarhaus in luftiger Höhe zwei Dachdecker. Der eine steht sicher. Er hat ein Gitter im Rücken. Der andere, ich mag gar nicht hinsehen, steht rücklings auf dem steilen Dach, hat die Füße links und rechts eines offenen Dachflächenfensters und montiert an der Oberkante ein Zinkblech ab. Sein Untermann nimmt gelegentlich abmontierte Teile an und verschwindet damit im Dachzimmer unter dem Fenster. Der auf dem Dach macht sich offenbar keine Gedanken, wenn sein Untermann weg ist, aber mir wird schon schwindlig beim Zusehen, wenn ich mir vergegenwärtige, wie nahe er einem Absturz ist. Es genügt eine unbedachte Bewegung oder eine Windeböe und er segelt nach unten.

Inzwischen ist mir
eingefallen, wieso ich so empfindlich auf den wagemutigen Dachdecker reagiere. Als Kind habe ich einmal gesehen, wie einer abgestürzt ist. Er balancierte auf dem Dachfirst des Hauses, in dem wir damals wohnten. Es hatte nur zwei Geschosse. Aber gemessen an meiner Körpergröße war es in meiner Wahrnehmung genauso hoch wie das Dach schräg gegenüber. Wir, die Hauseigentümerin, eine alte boshafte Jungfer, zu der ich Tante Zilla sagen musste, meine Mutter und ich, standen auf dem Hof und schauten dem Dachdecker bei der Arbeit zu. Plötzlich rutschte er auf dem Dachfirst aus, strauchelte und glitt zum Dach herunter. Im letzten Augenblick konnte er sich an der Dachrinne festhalten und hing daran wie ein nasser Sack, derweil Tante Zilla anhub zu schimpfen, was ihm einfiele, ihr die gute Dachrinne am ererbten Haus zu verbiegen.

Trotz Tante Zilla, am gefährlichsten lebt der Dachdecker am Boden. Den Unfallbericht eines Dachdeckers las ich erstmals 1974 in der Aachener Hochschulzeitschrift „Aachener Prisma“, für die ich Cartoons zeichnete. Rolf Wilhelm Brednich (Die Spinne in der Yucca-Palme) verzeichnet zwei Varianten unter der Nummer 114 („Kurioser Versicherungsfall“) und will sie im Oktober 1988 auf einer Party in Göttingen von einem Historiker gehört haben. Die folgende Variante vagabundiert durchs Internet. Sie gefällt mir wegen ihrer unfreiwilligen Komik am besten. Es ist der Brief eines Dachdeckers an die SUVA (Schweizer Unfall Versicherungs-Anstalt):

Nr. 29 – Geistesgegenwart verloren

In Beantwortung Ihrer Bitte um zusätzliche Informationen möchte ich Ihnen folgendes mitteilen: Bei Frage 3 des Unfallberichtes habe ich „ungeplantes Handeln“ als Ursache meines Unfalls angegeben. Sie baten mich dies genauer zu beschreiben, was ich hiermit tun möchte. Ich bin von Beruf Dachdecker. Am Tag des Unfalles arbeitete ich allein auf dem Dach eines sechsstöckigen Neubaus. Als ich mit meiner Arbeit fertig war, hatte ich etwa 250kg Ziegel übrig. Da ich sie nicht alle die Treppe hinunter tragen wollte, entschied ich mich dafür, sie in einer Tonne an der Außenseite des Gebäudes hinunterzulassen, die an einem Seil befestigt war, das über eine Rolle lief.

Ich band also das Seil unten auf der Erde fest, ging auf das Dach und belud die Tonne. Dann ging ich wieder nach unten und band das Seil los. Ich hielt es fest, um die 250kg Ziegel langsam herunterzulassen. Wenn Sie in Frage 11 des Unfallbericht-Formulars nachlesen, werden Sie feststellen, dass mein damaliges Körpergewicht etwa 75kg betrug.

Da ich sehr überrascht war, als ich plötzlich den Boden unter den Füssen verlor und aufwärts gezogen wurde, verlor ich meine Geistesgegenwart und vergaß das Seil loszulassen. Ich glaube ich muss hier nicht sagen, dass ich mit immer größerer Geschwindigkeit am Gebäude hinauf gezogen wurde. Etwa im Bereich des dritten Stockes traf ich die Tonne, die von oben kam. Dies erklärt den Schädelbruch und das gebrochene Schlüsselbein. Nur geringfügig abgebremst setzte ich meinen Aufstieg fort und hielt nicht an, bevor die Finger meiner Hand mit den vorderen Fingergliedern in die Rolle gequetscht waren. Glücklicherweise behielt ich meine Geistesgegenwart und hielt mich trotz des Schmerzes mit aller Kraft am Seil fest. Jedoch schlug die Tonne etwa zur gleichen Zeit unten auf dem Boden auf und der Boden sprang aus der Tonne heraus. Ohne das Gewicht der Ziegel wog die Tonne nun etwa 25kg.

Ich beziehe mich an dieser Stelle wieder auf mein in Frage 11 angegebenes Körpergewicht von 75kg. Wie Sie sich vorstellen können, begann ich nun einen schnellen Abstieg. In der Höhe des dritten Stockes traf ich wieder auf die von unten kommende Tonne. Daraus ergaben sich die beiden gebrochenen Knöchel und die Abschürfungen an meinen Beinen und meinem Unterleib. Der Zusammenstoß mit der Tonne verzögerte meinen Fall, so dass meine Verletzungen beim Aufprall auf dem Ziegelhaufen gering ausfielen und so brach ich mir nur drei Wirbel. Ich bedaure es jedoch, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich, als ich da auf dem Ziegelhaufen lag und die leere Tonne sechs Stockwerke über mir sah, nochmals meine Geistesgegenwart verlor! Ich ließ das Seil los, womit die Tonne diesmal ungebremst herunter kam, mir drei Zähne ausschlug und das Nasenbein brach.

Dieser Beitrag wurde unter Ethnologie des Alltags abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

10 Kommentare zu Wahre Geschichten – Dachdecker verliert Geistesgegenwart

Schreibe einen Kommentar zu Careca Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.