Aquarell

Man kann ja tausend Sachen haben und Schubladen, die sich vor Zeug kaum noch bewegen lassen. Das schützt nicht davor, dass man just das nicht hat, was man gerade braucht. Ich will eine Straßenszene aquarellieren und habe kein kürschnerrot mehr. Glücklicher Weise bin ich vor fünf Jahren, als ich mal einen Radiergummi gebraucht habe, da bin ich Mitglied in einem Fachgeschäft für Künstlerbedarf geworden. In diesem exklusiven Geschäft residiert eine aparte Dame von ätherischer Schönheit an einem beinah quadratischen Infostand hinter der Theke und lächelt mich erwartungsvoll an.
„Wo finde ich denn kürschnerrot?“

Kunstvoll lackierte Fingernägel, jeder Fingernagel eine Miniaturlandschaft, eilen über eine Computertastatur. Mit Blick auf den Computerbildschirm verzieht sie ihren sorgsam geschminkten Mund zur Schnute.
„Hm, kürschnerrot fehlt! Seltsam, wir haben erst vorige Woche eine neue Charge bekommen.“
„Charge? Wie groß ist denn so eine Charge?“
„Fünfundzwanzig Näpfchen!“
„Nur fünfundzwanzig Näpfchen?! Warum bestellen Sie nicht mehr?“
„Sie hören mich seufzen. Kürschnerrot ist in letzter Zeit immer schwerer zu bekommen.“
„Warum?“
„Dieser wunderschöne Rot-Ton wird ja aus überfahrenen Kürschnern gewonnen. Die werden halt immer seltener.“
„Die Kürschner oder überfahren?“
„Kürschner! Ach, diesen ehrbaren Handwerkern wird ja von fanatischen Tierschützern so das Leben schwer gemacht!“
„Wir brauchen sie ja auch tot.“
„Ein aussterbendes Handwerk, zweifellos.“
„Bei den jährlich gut 4.000 Verkehrstoten sollte doch ein Kürschner sein.“
„Offenbar nicht oft genug.“
„Warum ausgerechnet Kürschner? Marderhaarpinsel sind ja inzwischen auch nicht mehr aus Marder.“
„Nur Kürschner haben den speziellen Unterhautton. Er lässt sich nicht künstlich synthetisieren.“
„Unterhautton?“
„Wenn die Haut abgezogen ist.“
„Was ist mit überfahrenen Bankstern oder Finanzmaklern?“
„Unter der Haut kotzgrün.“
„Politikern?“
„Kackbraun.“
„Journalisten?“
„Rotzwichsgelb.“
„Dass so schöne Lippen derart hässliche Wörter formen können, hätte ich nie gedacht.“
„O, ich kenne noch andere! Was halten Sie von ‚Geschlechtsorgan-Anomalien’? Darüber haben wir uns gestern noch in der Sauna unterhalten, als ein wirklich bizarrer Kerl vorbeikam.“
„Brrr! Ach, wissen Sie was? Lassen wir das mit kürschnerrot. Ich will dann lieber doch keinen Verkehrsunfall aquarellieren. Mir ist gerade ein bisschen schlecht.“

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