Einträgliche Notdurft – Umsonst nach Australien

Nr. 7 – Einträgliche Notdurft

Eine arme alte Dame, die ihre letzten Jahre auf einem Zimmer in einer heruntergekommenen Amsterdamer Pension fristete, ging eines Tages spazieren. Dabei kam sie in eine einsame Gegend, in der sie noch nie gewesen war. Die Straße führte an einer langen Friedhofsmauer vorbei. Sie spürte, dass sie dringend zur Toilette musste und sah in der Ferne ein Gebäude mit der Aufschrift „Beerdigungszentrum“.

Da haben sie sicher Toiletten für die Besucher, dachte sie. Sie könnte doch hineingehen, sich unter die Trauergäste mischen und unauffällig zum WC schlüpfen.

Sie stemmte das Portal auf und trat in die Halle. Da war niemand, nur eine aufgebahrte Leiche. Aus einer Seitentür trat ein Angestellter in dunkler Uniform. Die Frau zog ein trauriges Gesicht, es fiel ihr nicht schwer, und nachdem sie dem Toten die letzte Ehre erwiesen hatte, trat sie an das Kondolenzbuch und trug sich ein. Anschließend fragte sie den Uniformierten nach der Toilette.

Einige Wochen später traf ein Brief von einer Notarkanzlei bei ihr ein. Darin stand, sie sei die einzige Erbin eines großen Vermögens. Der Verstorbene hatte in seinem Testament verfügt, dass sein Vermögen aufgeteilt werden sollte unter Freunden und Verwandten, die zur Beerdigung kommen würden. Außer der Alten war niemand gekommen.

Nr. 8 – Umsonst nach Australien

Eine junge Frau fragt Matrosen eines Schiffes, ob man sie an Bord schmuggeln und mit nach Australien nehmen könne, wo sie unbedingt hinwollte, obwohl sie kein Geld habe. Sie bietet als Belohnung für die Dauer der Passage ihre Liebesdienste an. Die Matrosen willigen ein und bringen sie an Bord. In den folgenden Wochen lebt sie irgendwo im Laderaum des großen Schiffes und wird täglich rege von Matrosen besucht. Endlich fragt sie sich, ob das Schiff nicht bald in Australien sein müsste. Sie schleicht an Deck und stellt mit Entsetzen fest: Sie ist auf der Kanalfähre nach Dover.


Die beiden Sagen hörte ich auf dem niederländischen Radiosender Hilversum III. Der Discjockey Jeroen van Inkel erzählte in den 80-ern in seiner täglichen Vorabendshow Rinkeldekinkel unter der Rubrik Een waargebeurde verhal (Eine wirklich passierte Geschichte) eine Urbane Sage, untermalt von dramatischer Musik. Ich habe sie damals mitgeschnitten, hernach transkribiert und frei übersetzt, eigentlich nacherzählt. Van Inkel hat nie eine Quelle angegeben. Vermutlich waren die Sagen von Hörern eingesandt worden. Viele dieser Sagen sind ziemlich drastisch und gingen beinah unzensiert über den Sender. Weder in den drei Sagensammlungen von Rolf Wilhelm Brednich noch in der Sagensammlung „Die Ratte in der Pizza“ des schwedischen Ethnologen Bengt af Klintberg habe ich eine davon wieder gefunden. Von Sage Nr. 7 hat Kollege nömix in der Datenbank snopes.com mehrere Varianten gefunden. Da sie etwa zeitgleich kursierten, jedoch starke Unterschiede aufweisen, muss es wesentlich ältere Vorläufer geben. Der früheste Nachweis stammt aus einem Comic von 1946.

Die Van-Inkel-Sage von den Flitterwochen mit falschem Gipsbein habe ich in diesem frühen Text verarbeitet.

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