Den eigenen Kardinalfehler solle man kennen, rät Balthasar Gracian in „Die Kunst der Weltklugheit“. Sei der Kardinalfehler erkannt und erfolgreich bekämpft, würden die anderen Fehler wie Dominosteine fallen. Dann ist man endlich der Mensch, der man schon immer mal sein wollte. Mein Kardinalfehler, die Prokratination (Aufschieberitis), zeigte sich erstmals in früher Jugend, als ich das Schriftsetzer-Handwerk erlernte.
Da musste ich ein Berichtsheft führen, täglich einen Arbeitsbericht schreiben und wöchentlich ein Fachthema ausarbeiten. Das tat ich einige Wochen, und samstags legte ich das Berichtsheft meinem Meister getreulich zur Unterschrift vor. Bald jedoch ließ ich eine Woche verstreichen, noch eine und noch eine, und da mein Meister mich nicht nach dem Berichtsheft fragte, ließ ich die Sache ganz, zumal ich täglich 12 Stunden unterwegs war, denn ich kam ja vom Land und arbeitete in der Stadt. Dahin fuhr ein Bus, der wie ein Lumpensammler in großen Schleifen über alle Dörfer zockelte, auch an jeder Milchkanne hielt und deshalb für 20 Kilometer Fahrt über eine Stunde benötigte. Da hatte ich abends wirklich keine Lust mehr, einen Tagesbericht zu schreiben.
Als nach drei Jahren die Gesellenprüfung anstand, sollte ich mein Berichtsheft einreichen. In der Not wurde ich für eine Woche scheinkrank und schrieb die Arbeitsberichte von drei Jahren. In den Jahrzehnten ist mein Ungeheuer Prokrastination nicht schwächer oder ich bin nicht stärker geworden und folglich noch kein besserer Mensch. Heute habe ich den Kampf erneut verloren. Es gibt zwar einen Tagesbericht anzuklicken, aber wenig Fleiß zu vermelden.
Fröhliches Prokrastinieren
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