Ein Sturz, Zungenreden und Treppenwitze


Äh, ich muss
mich konzentrieren. Es geht um seltsame Worte, die ich jüngst hörte und sprach. Ich glaube, da offenbarte sich eine bisher unbeachtete Sorte des Sprechens: Sprechen ohne Denken, „Spontanlalie“, gezieltes Zungenreden. Folgendes: Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs zum Sport und schon ein bisschen spät dran, weshalb ich mich sputen muss. Zu Beginn der komplett erneuerten Benno-Ohnesorg-Brücke führt der Fahrradweg vor einer Supermarktfiliale vorbei. Der Radweg ist dort so schmal, dass man nicht ausweichen kann, ohne auf die tiefer liegende Fahrbahn zu stürzen.

Aus Tür des Supermarkts kommt eine Frau und tritt ohne sich umzusehen auf den Fahrradweg. Ich muss eine Vollbremsung machen. Nun ist es so, dass in letzter Zeit meine Hinterradbremse ein wenig schwach ist. Links bremse ich also stärker, zumal meine linke Hand noch nicht so gefühlvoll reagieren kann. Jedenfalls kommt mein Rad vor der Frau zum Stehen, bockt aber, geht hinten hoch und wirft mich über den Lenker ab.

Wie ich am Boden liege, fragt die Frau, indem sie sich zu mir hinunter beugt: „Alles in Ordnung?“
Ich: „Nein, nichts ist in Ordnung!“
Sie: „Das ist mir letztens auch passiert. Da hat mich ein Auto…“
Derweil habe ich mich aufgerappelt. Ein junger Mann hat das Fahrrad aufgehoben und hält es mir hin. Ich sage: „Dankeschön!“, schwinge mich drauf und fahre weiter.
Ruft sie hinter mir her: „Seien Sie vorsichtig!“
Rufe ich zurück: „Nein, seien SIE vorsichtig!“
Sie: „Ich bin nicht von hier!“

Von mir weiß ich, dass ich spontan gesprochen hatte, denn ich hatte gewiss einen kleinen Schock. Bei ihr wird es nicht anders gewesen sein. Später auf dem Rad dachte ich über den schrägen Dialog nach.

„Alles in Ordnung?“, sollte wohl heißen: „Dass Sie meinetwegen gestürzt sind, tut mir leid. Haben Sie sich verletzt?“
„Nichts ist in Ordnung!“, bedeutete: „Das ist nicht die richtige Frage. Es ist nicht in Ordnung, dass ich Ihretwegen den Bürgersteig küssen muss.
„Das ist mir letztens auch passiert. Da hat mich ein Auto…“ sollte heißen: „Mich hat man kürzlich erst ebenso gefährdet, nicht nur Sie.
Auf den Quatsch wusste ich nichts zu sagen, der Vergleich hinkte ja hinten, vorne und in der Mitte.
Echte Besorgnis sprach aus: „Seien Sie vorsichtig!“ Sollte heißen: Es gibt außer mir noch mehr kopflose Tussen auf der Welt.
„Nein, seien SIE vorsichtig!“, bedeutete: „Ich brauche Ihre Ermahnung nicht. Schließlich habe ich rechtzeitig gebremst, als Sie kopflos auf den Fahrradweg sprangen.
„Ich bin nicht von hier!“ ist weniger absurd als man denkt. Sie meinte wohl, dass ihr die Gefahrenstelle auf der Benno-Ohnesorg-Brücke nicht bekannt war.

Die Äußerungen in der Situation waren alle unvollständig, bedingt durch den Schock und meine Eile. Nachher hätten wir beide gewusst, was hätte gesagt werden müssen. Nach Diderot ist das der „Treppenwitz“ , die passende Entgegnung, die einem zu spät, erst auf der Treppe einfällt. Was aber steuert unser Sprechen, wenn eine Spontanäußerung notwendig ist? Wir könnens, wenn auch ungeschickt. Warum sind manche schlagfertiger als andere? Welcher Gemütszustand begünstigt Schlagfertigkeit? Sowas untersucht vermutlich keiner.

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