Typografische Lehrbriefe (1) – Vom Fleisch der Buchstaben

Alle in der Setzerei hassten Friedhelm Tenroggen. Friedhelm Tenroggen war Gebrauchsgrafiker, das heißt, er gestaltete Drucksachen des täglichen Gebrauchs wie Briefbögen, Visitenkarten und dergleichen, sogenannte Akzidenzen. Heute nennen sich solche Leute eher Grafik-Designer. Das klingt schöner und betont die Notwendigkeit ihrer Arbeit. Wir Schriftsetzer hätten auch ohne Tenroggen einen Briefbogen oder eine Visitenkarte setzen können. Doch Friedhelm Tenroggen schaffte es, aus einer Namenszeile in 6 Punkt Helvetica, Versalbuchstaben, eine große Sache zu machen, denn er war ein fürchterlicher Pedant.

Aber so sehr er uns mit seinem kleinlichen Insistieren nervte, so sehr muss ich ihm rückblickend Recht geben, denn Friedhelm Tenroggen kämpfte um Qualität in der Typografie. Beim Anblick heutiger Typografie würde Friedhelm Tenroggen gewiss die Augen verdrehen und sogleich verröcheln. Es würde ihm so weh ums Herz zu sehen, dass der Kampf um typografische Qualität auf allen Feldern schmählich verloren ist. Oder Friedhelm Tenroggen würde am Augenweh sterben beim Anblick typografischer Sünden, die von den meisten Leute nie und nimmer wahrgenommen werden. Es geht nämlich um etwas ganz Subtiles und subtile Dinge werden nicht beachtet in einer durch und durch marktschreierischen Zeit. Worum geht’s?

Texte in Versalbuchstaben bieten unruhige Wortbilder, wenn sie nicht ausgeglichen sind. Beim Zusammentreffen bestimmter Buchstaben entstehen ungewollte optische Lücken, z. B. bei A V, A O, T A usw. Dieser Eindruck entsteht durch den Leerraum seitlich der Buchstaben, Fleisch genannt. Andere Buchstaben mit wenig Fleisch wie MIN scheinen näher zusammen zu stehen. Im Bleisatz lässt sich der unruhige Eindruck durch Spationieren vermeiden. Dazu werden dünne Blei- oder Messingspäne, genannt Haarspatien, zwischen die scheinbar enger stehenden Buchstaben geschoben, bis ein optisch ausgewogener Gesamteindruck entsteht. Computer- und Fotosatz bieten zum Ausgleichen das Unterschneiden an (Kerning), wobei die Buchstaben der problematischen Kombinationen näher aneinandergerückt werden. Zur Zeit des Bleisatzes war Ausgleichen mühsam und kostspielig. Und es brauchte Leute wie Friedhelm Tenroggen mit Geschmack und Sinn für gute und angenehme Proportionen, sich gegen die Dickfelligkeit der Schriftsetzer und die barbarische Ökonomie der Märkte durchzusetzen.


Fleisch macht sich dick und dünn – Foto und Gif-Animation: Trithemius

Friedhelm Tenroggen war ein direkter Nachfahre von Jan Tschichold, dem Erneuerer der Typografie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sein Biograph Werner Klemke erzählt, dieser große Typograph habe in seiner Brieftasche neben Karton- und Papierspänen verschiedener Stärke auch Florpapierstückchen liegen gehabt, um Zeilen auszugleichen, wo die feinsten Spatien der Setzerei nicht mehr ausreichten. Wenn Tschichold dann vorn in die Druckerei kam, sprang hinten der entnervte Faktor (der Erste Setzer) aus dem Fenster. Tschicholds typographischer Purismus wirkt heute ein bisschen lächerlich. Doch seine Florpapierchen waren Dienst am Leser, denn unausgeglichene Zeilen knirschen beim Lesen.

Schlechte Typographie wird oft nur unbewusst wahrgenommen, sie fördert aber generell die Leseunlust. Obwohl mit dem Verschwinden des Bleisatzes die technischen und materiellen Beschränkungen weitgehend verschwunden sind, unterbleibt das Ausgleichen in vielen Drucksachen, aus Kostengründen und oft auch aus Unverstand oder Nachlässigkeit. Es kann jeder funktionale Analphabet sich mit Hilfe des Computers als Grafik-Designer betätigen. Und so beschert uns das typografische Imponiergehabe beständig typografische Katastrophen, riesige Löcher zwischen Wörtern oder Buchstaben. Die Einheit der Zeile wird auf dem Altar armseliger Gestaltungsbemühungen der Kirmesbudenästhetik geopfert. „Man fährt von einem Buchstaben bis zum nächsten mit der Vorortbahn“, wie Kurt Schwitters sagt, womit wir schon beim bald folgenden Lehrbrief sind: Über den Gießbach

Hausaufgabe:
Fotografiere derlei typografische Katastrophen im Straßenbild oder sonst wo.

Bisschen Musik dazu:
Teppichhaus-Musiktipp

Intergalactic Lovers – Delay

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13 Kommentare zu Typografische Lehrbriefe (1) – Vom Fleisch der Buchstaben

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