Das Leben ist geritzt, der ganze Rest noch nicht


Herr Leisetöne
erzählte am Samstagabend beim Bier im „Vogelfrei“ folgendes: Nachdem er in meiner Abwesenheit in meiner Wohnung nach dem Rechten geschaut, Josie, meine Zimmerpalme, gegossen und dankenswerter Weise abgewaschen hatte, was ich an benutzten Tellern und Tassen einfach hatte stehen lassen, habe er sich einen Kaffee gemacht. Beim Kaffeetrinken sei ihm auf meiner Kommode das unten abgebildete Griffelkästchen mit dem aufgeklebten Schriftzug aufgefallen. Den Spruch fand er bezeichnend für mich und meine derzeit leicht verzagte Lebenshaltung.

Dieses Griffelkästchen hatte ich vor kurzem auf dem Flohmarkt am Faust-Kulturzentrum für drei Euro gekauft. So eines habe ich in meiner Kindheit auch besessen. Wir schrieben in den ersten Schuljahren noch mit Griffeln auf kleine Schiefertafeln. Es war Schreiben im etymologischen Sinn, denn das Wort ist ein Lehnwort aus dem Lateinischen: scribere bedeutet mit einem Griffel ritzen und ist verwandt mit dem griechischen graphein, das graben bedeutet, entsprechend Graffito, plural Graffiti, die ebenfalls in der Antike geritzt wurden.

Griffelkästchen (50-er Jahre) mit integriertem Lineal – Foto: Trithemius- größer: Klicken

Geritzte Schriftzüge sind Inschriften, während heutiges Schreiben und Drucken meistens Aufschriften hervorbringt. Der noch von den Römern zum Ritzen in Wachstäfelchen verwendete stilus war an seinem hinteren Ende abgeflacht. Mit diesem flachen Ende konnte man das Wachs wieder glätten, um einen Fehler zu korrigieren. Wer dieses Ende beim Schreiben häufig benutzte, bemühte sich um einen guten „Stil“. Ein guter Schreibstil stellt sich noch heute nur ein, wenn der Schreiber bereit ist, seinen Text kritisch zu betrachten und zu korrigieren.

Ähem, vom Thema abgekommen. „Heute beginnt der erste Tag vom Rest Ihres Lebens.“ Es ist nicht anzunehmen, dass diese Aufschrift einem Erstklässler galt. Wer würde einem Kind, das freudig zur Schule geht, etwas derart Zynisches sagen, etwa zur Einschulung. Außerdem würde man es duzen und nicht siezen. Herr Putzig hat gestern mit Recht darauf hingewiesen, dass der Satz immer und für jeden gilt. Allmorgendlich beginnt das restliche Leben. Herr Leisetöne versteht „Rest“ aber mathematisch als das, was bei der Division übrig bleibt, entsprechend der Etymologie aus lateinisch restare; das ist übrigbleiben.

Allerdings habe ich nicht das Gefühl, von meinem Leben wäre nur ein Rest übrig geblieben wie die Neige im Glas. Die Größe des Restes kennt der Mensch ja nie. Die Aufschrift ist also nur oberflächlich betrachtet sinnreich, aber eigentlich eine Banalität und nicht „wert, in Erz gegraben zu werden“ (Heinrich von Kleist). Ich würde den Spruch nicht mal in Käse ritzen. Seinetwegen habe ich das Griffelkästchen nicht gekauft, sondern aus nostalgischen Gründen und wegen seiner genialen Form, einem Design, das sich nicht verbessern lässt. Das integrierte Lineal ist das Schließelement, ein Riegel und gleichzeitig ein Deckel für die zwei Fächer darunter. Gut, dass das Kästchen nur eine leicht tilgbare Aufschrift hat und nicht beritzt ist.

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