Kalter Sommer, Sprachmagie und Nachbarschaft

Es ist viel zu kalt zum Limmern. Obwohl noch immer Leute im T-Shirt und ohne Socken herumlaufen. Diese Leute lesen, dass Sommer ist und lassen die Socken weg. So einen kannte ich mal. In allen Monaten ohne „r“ verschmähte er die Socken. Hinterm Haus hatte er eine Zisterne voller Regenwasser, und sobald der Sommer ausgerufen war, sprang er frühmorgens hinein, auch wenn eine Eisschicht auf dem Wasser war. Man mied ihn, denn in seiner Nähe bekam jeder eine Gänsehaut. Ihn kümmerte das nicht, denn er glaubte an den Sommer. Der Glaube kann Berge versetzen, beziehungsweise Socken verbannen, macht aber einsam.

Man denkt, solche Leute merken nichts. Sie sind dickfällig, unempfindlich, abgestumpft, ja, nahezu unmenschlich. Aber es ist anders. In den Köpfen solcher Leute verläuft das Denken in tiefen Kanälen mit steilen Betonwänden. Der Aufmerksamkeitsfluss kann da nicht raus, allenfalls an der nächsten Schleuse. Da mögen Stürme aufziehen, Orkanböen alles durcheinander rütteln, faustgroße Hagelkörner vom Himmel fallen, die Temperatur unter Null stürzen; unten im Kanal ist es immer gleichmäßig warm, sobald es heißt: „Es ist Sommer.“

Manche Leute sind eben viel anfälliger für Sprachmagie als andere. Darum findet K. das Verb „Limmern“ nicht gut. Er lehnt es ab. Seitdem der Begriff besteht, wären abends viel mehr Leute auf der Limmerstraße als früher, sagt K., besonders solche aus anderen Stadtteilen. Das ist nachvollziehbar. Wenn früher eine Horde beisammen gestanden hat und nicht wusste, wohin und was tun, dann ist ihnen gar nicht eingefallen, zur Limmerstraße zu fahren. Denn die Erklärung, was man da machen solle, wäre zu umständlich gewesen:

„Wir kaufen uns am Kiosk Bier, setzen uns auf die Treppen und Fensterbänke der Läden oder bevölkern die Bürgersteige, quatschen, krakeelen, hören Musik und gucken, wer sonst noch da ist, sich Bier am Kiosk kauft, auf Treppen und Fensterbänken herumsitzt oder die Bürgersteige bevölkert, grölt und guckt, wer sonst noch da ist, Bier am Kiosk kauft …“.

Ein derart langer und komplizierter Vorschlag hätte kein Gehör gefunden, vor allem nicht bei solchen, die sich nicht in losen Gruppen, sondern in Horden zu treffen pflegen. Bei denen wäre ein solcher Vorschlag mittendrin schon ungeduldig unterbrochen und somit abgewiegelt worden.

Heißt es aber: „Wir gehen limmern“, weiß jeder, was ansteht, fühlt sich angewärmt vom freundlich hellen Stammvokal „i“, hat insgesamt die schönsten Assoziationen vom beinah mediterranen Herumsitzen in lauen Nächten und lungert zum Leidwesen der Anwohner auch herum, wenn es eigentlich viel zu kalt zum Limmern ist. Man kann sich ja warme Socken anziehen oder ist sowieso ein Betonkopf, der nichts merkt.

Jedenfalls sieht sich das Kulturzentrum Faust schon genötigt, „dringend“ nachbarschaftliches Verhalten anzumahnen. Jetzt ist zwar dieses Kulturzentrum das zur Faust geballte kulturelle Herz Hannover-Lindens und entsprechend geachtet, aber just die Horden, die von außerhalb zum Limmern in die Limmerstraße einfallen und auch noch ihre Ghettoblaster mitbringen, die haben natürlich mit Rücksicht auf die Nachbarn nichts am Hut, weil’s ja nicht ihre Nachbarn sind.

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8 Kommentare zu Kalter Sommer, Sprachmagie und Nachbarschaft

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