Die Papiere des PentAgrion – Fehler in der Software

Papiere des PentAgrion bd 2
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TT-Musik von: The Bear That Wasn’tYour Huckleberry Friend

Folge 2.1 Die Macht der JackeFolge 2.2 Von den SockenFolge 2.3 Realer Ruch des BlutesFolge 2.4 Der Autor ist verwirrtFolge 2.5 Planet der PostbotenFolge 2.6 Forschungsreise durch den Kopf und andere NetzeFolge 2.7 Große Welt ist kleine Welt – Folge 2.8 Ein Netz wird zerfetzt

2.9 Händchenhalten überm Höllenschlund

Heute sah ich in der Mensa eine aparte Studentin. Sie kam vorbei, setzt sich an einen Tisch in meinem Blickfeld, an dem bereits ein junger Mann saß. Nicht lange, da hielten die beiden übern Tisch hinweg Händchen. Sie wippte mit dem Stuhl nach hinten und ließ sich von ihm wieder heranziehen, eine ganze Weile. Dieses Hin und Her war ein Anblick, von dem ich kaum lassen konnte. Plötzlich flog mich der Wunsch an, mit ihm zu tauschen, die Hände der Schönen zu halten und ihr wippendes Spiel mitzumachen.

Aber bevor ich mich auf den Gedanken einlassen konnte, stiegen ernsthafte Bedenken auf. Es gibt ja in jedem Leben Abgründe, in die man nicht unbedingt schauen möchte, weil man gänzlich unvorbereitet wäre. Der Besitzer des jeweiligen Abgrunds hat sich ja an diesen Anblick gewöhnen können, denn auch die tiefsten und schrecklichsten Abgründe im Leben eines Mensches haben sich meistens langsam aufgetan, manchmal so sanft, dass der Mensch nicht den geringsten Schimmer davon hatte, welcher Höllenschlund dereinst sein Maul aufreißen würde. Ich wüsste also nicht, auf was ich mich einstellen müsste bei einem plötzlichen Tausch meiner Ichidentität. Hielte ich plötzlich die Hände der schönen Studentin, könnte es mir gehen wie gestern, als ich mit dem Rad über das Wasserkreuz fuhr, wo der Mittellandkanal die Leine auf einer Brücke überquert. Der Weg am Kanal entlang führt da über zwei parallele Lagen von Stahlblechgittern. Kaum rollte ich drüber, fiel mein Blick nach tief unten und plumpste wie ein Stein in die rasch dahinströmende Leine hinein. Für einen Moment krampfte sich mein Magen zusammen und mein armes strapaziertes Herzchen stockte. Wer sagte mir, dass die Gitterelemente allesamt noch sicher befestigt waren? Später musste ich noch mal über die Gitter zurück, denn ich war auf der falschen Kanalseite. Hier lief der Weg tot. Aber jetzt war ich schon gefasst, sah nicht nach unten in den Abgrund, sondern nur nach vorne.

So halten es ja manche mit ihrem eigenen Abgrund, weil sie sich auskennen. Oder einer ist so abgebrüht, dass ihm der Anblick nichts mehr macht und er frohgemut Händchen halten kann und nicht hinuntergefegt wird wie ich beinah am Wasserkreuz.

Der lange Flur in meiner Wohnung ist nur in mondlosen Nächten stockdunkel. Manchmal wache ich auf, tappe schlaftrunken den finsteren Flur entlang, ohne den Lichtschalter zu finden. Oder ich finde einen, aber betätige ihn vergebens, als hätten alle Lampen der Welt sich gegen mich verschworen. Manchmal entdecke ich dann Türen, wo keine sein sollten. Sie tun sich auf, aber auch dort ist kein Licht. Ich denke mir nichts dabei, taste nach dem Bett und sinke hinein. Wenn ich am Morgen aufwache, ist alles wieder gut. Die Türen sind am richtigen Platz und alle Lampen funktionieren. Kürzlich habe ich herausgefunden, dass gar nichts gut ist, wenn ich durch eine falsch sich auftuende Tür getorkelt bin, überhaupt nicht. Das falsche Zimmer ist ein fremder Kopf, aber ich muss nicht vor plötzlich sich auftuenden Abgründen erschrecken, denn ich habe alle Erinnerungen, die nötig sind, damit ich mich gewöhnt habe. Darum habe ich auch so spät bemerkt, was es mit den falschen Türen auf meinem Flur auf sich hat. Geahnt habe ich freilich schon einiges, der Träume wegen:


Wieder saß ich auf dem Stein, der sich allein aus der Einöde hob, und beklagte mein Los. Dass ich so Mutterseelen allein sei und der menschlichen Gesellschaft entbehre, nicht wissend, was mich herausgerissen aus meiner Welt und auf diesen Stein verschlagen hat. Wie so oft ließ ich mich unter dieser Last auf den Felsen sinken. Sofort wurden Bilder an den Himmel projiziert.

Woher sie kommen und warum sie mir gezeigt werden, weiß ich nicht. Es hat mit wenigen Schwarzweißbildern begonnen. Irgendwann wurden sie bunt, und sie wechselten rascher als zuvor. Die Bilder zeigen mir unzählige Welten, unzählige Leben. Gerade zeigten sie, was ich besonders entbehre, zwei menschliche Hände. Ich richte mich auf, so dass die Bilder verschwinden.

Wenngleich die öde Ebene ringsum mir jeden Weg zu gestatten scheint, darf ich dennoch nicht in alle Richtungen gehen. Erlaubt ist mir ein Weg, an dessen Ende ich Nahrung finde. Auch darf ich Schleifen drehen, gleich den Rundwanderwegen in der verlorenen Welt. Doch wende ich mich in die einzige Richtung, in der ich ferne, verlockende Hügel sehen kann, werde ich sogleich aufs Bitterste bestraft. Ja, selbst, wenn ich nur daran denke, den Weg zu nehmen, sind da grausige Stimmen in meinem Ohr, die mich bedrohen und unerfüllbare Forderungen an mich richten, und zwar um so heftiger, je weiter ich mich auf dem Weg vorwage.

Geistige Nahrung darf ich mir auch besorgen. Da gibt es einen Ort, wo andere Stimmen tönen als jene in meinem Kopf. Stimmen ohne Zugriff auf mich. Wie absichtslos erzählen sie mir Dinge, die meine Gedanken für eine Weile lenken.

Der Schlaf ist mein einsamer Gefährte. Er nimmt mich und trägt mich vom Felsen. Doch irgendwann ist er meiner überdrüssig und legt mich auf den Stein zurück. Warum, frage ich mich, kann ich beim Erwachen nicht jemand anders sein? Ein Seehund zum Beispiel, der einen bunten Ball auf seiner Schnauze balanciert. Und habe ich meine Sache gut gemacht, wirft man mir vom Beckenrand köstlichen Fisch zu.

Ja, ich bin klug geworden. Selten nur noch schaue ich sehnsuchtsvoll auf den blauen Dunst der fernen Hügel. Ich kann andere Dinge tun, meinen Stein umkreisen, die Schleifen gehen, mir Nahrung besorgen. Auch gibt es einen Hohlraum im Felsen, in den ich meine Phantasien sprechen kann gleich einer Ofenbeichte, bei der man durch die offene Herdklappe ins Feuer spricht. Bisweilen tönt es zurück, und für eine Weile bin ich froh, ein Echo ausgelöst zu haben.

Manchmal, völlig unvermittelt, schleicht sich leiser Glockenhall an mein Ohr. Dann schaue ich auf und hinüber, denn ich weiß, die Töne fließen von den Hängen der Hügel. Wie sehr zieht es mich hin. Wie sehr vermisse ich die wundersame Landschaft, deren Beschreibung ich nicht wage.

Es geht vorüber. Ja, ich erwache… und stehe mit vielen anderen auf dem Bahnsteig in Stolberg. Die Bahnsteige in Stolberg (Rhld) sind nicht überdacht. Überhaupt ist es recht ungastlich in Stolberg. Selbst wenn der Zug mit geschlossenen Fenstern durchfährt durch Stolberg (Rhld), dann stinkt es nach faulen Eiern. Dort auf dem zugigen Bahnsteig zu stranden mit einem Lokführer, der ratlos in der Tür seiner Lok sitzt und nicht weiß, wann er weiterfahren darf, das gemahnt an einen Alptraum. Als alle Wartenden schon verzweifelt sind, naht die Rettung. Ein Fahrdienstleiter mit einem großen Rucksack auf dem Rücken taucht aus der Unterführung auf, wird sogleich umringt und mit Fragen gelöchert, denn er strahlt Kompetenz aus. Nach einer Weile macht er sich frei, tritt einige Meter zur Seite und ruft mit seinem Mobiltelefon irgendwo an, offenbar bei einer höheren Stelle. Ich höre ihn fragen: „Und was mache ich jetzt mit meinen Leuten?“

„Meine Leute!“ Es wirkt sogleich beruhigend, dass plötzlich jemand sich verantwortlich fühlt für den Haufen, der auf dem Bahnhof von Stolberg gestrandet ist. Inzwischen bin ich mit einer jungen blonden Frau ins Gespräch gekommen. Sie ist Zollbeamtin und will nach Berlin zu einem Lehrgang, was vom Stolberger Bahnhof aus unglaublich weit wirkt. Es ist kaum vorstellbar, dass jemand, der auf dem Bahnsteig in Stolberg herumsteht bei einem Zug, der nicht fährt, noch zu christlicher Zeit in Berlin anlangen kann. Sie ist Zollbeamtin, und ich habe mir in Maastricht im Easy-Going-Coffeeshop fünf Gramm Gras gekauft. Wenn ich meinen Arm bewege, steigt der unverkennbare Geruch nach frischem Haschisch aus der Innentasche meiner Jacke auf.

Fortsetzung: In Vorbereitung

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