Ich fürchte die Mutter aller Dinge – Velo-City-Night


„Velo“, nennen die Schweizer das Fahrrad, „Velo Love“ lautet das Motto der 2. Velo-City-Night Hannover 2013. Und weil es nicht gut ist, Dinge zu lieben, berücksichtigen die Veranstalter auch menschliche Kontakte. Für 2 Euro Startgebühr bekommen Singles gelbe Armbändchen, die anderen magentafarbene. Freilich ist vom Anbandeln während der Fahrt abzuraten, wenn eintausend Radfahrerinnen und Radfahrer sich auf die 22 Kilometer lange Wegstrecke durch Hannover machen und in erster Linie darauf achten müssen, nicht mit anderen zu kollidieren.

Man weiß ja nicht, wie sicher die anderen Teilnehmer sind, ob sie es gewöhnt sind, im Verband zu fahren, ob sie immer schön in der Spur bleiben oder Spaßvögel sind, die plötzlich seitlich ausscheren, weil sie es genießen, die gesamte Straßenbreite benutzen zu dürfen. Dieser Platz ist da, denn die Polizei begleitet das Fahrerfeld mit einem Führungsfahrzeug, und Polizisten auf Motorrädern sperren die Strecke für den Autoverkehr.

Ich bin lose mit Freund Rasendreher verabredet, aber er scheint nicht zu kommen. Deshalb gehe ich zum Stand des Veranstalters, wo Plakate mit der Aufschrift „Ordner gesucht“ hängen und frage, was man denn tun müsse als Ordner. Es gibt nur eine Aufgabe, nämlich die Polizei beim Sperren der Einmündungen zu unterstützen. So bekomme ich eine neonfarbene Warnweste und übernehme zusammen mit etwa zehn anderen Ordnern die Aufgabe, an den Straßeneinmündungen wartende Polizisten abzulösen, dann den gesamten Pulk von Velo-Love-Radfahrern vorbeizulassen und anschließend wieder ganz nach vor zu fahren zur nächsten Absperrung.

Nach dem Start am Klagesmarkt bekomme ich gleich eine Vorstellung von der Dimension dieser Aufgabe. Denn anders als bei der 1. Velo-City-Night im April startet man zunächst in Gegenrichtung. Ich aber stehe mit meinem Velo ziemlich weit hinten, weil ich gedacht hatte, da wäre vorn.

Exponat der Ausstellung F. W. Bernstein zum 75. Geburtstag – Foto: Trithemius

Die Strecke führt zu Beginn über den Königsworther Platz am zwei Kilometer langen Georgengarten vorbei. Und obwohl ich mich beeile, schaffe ich es erst kurz vor seinem Ende, nach vorne zu kommen. Dort wartet ein Polizist mit seinem Motorrad und Blaulicht am Hochbahnsteig der Straßenbahn und freut sich über seine Ablösung. Zum ersten Mal in meinem Leben arbeite ich mit der Polizei Hand in Hand. Ein seltsames Gefühl, das mir fast ein schlechtes Gewissen macht. Aber ich tröste mich, dass ich nur für kurze Zeit mit der Staatsmacht eins bin und Verantwortung zu übernehmen schließlich keine Schande ist.

Inzwischen beginnt es zu dämmern, und an den meisten Fahrrädern leuchten Lampen und Rücklichter. Einige Radfahrer transportieren auf Anhängern oder umgebauten Gepäckständern große, farbig blinkende Boxen, und beschallen mit ihrer Musik Nachbarschaft und Fahrerfeld. Manche Radfahrer lassen ihre Klingel ertönen aus lauter Freude über die wunderbare Erfahrung, völlig unbehelligt auf der Straße fahren zu dürfen. Überall stehen staunende Schaulustige und werden über Lautsprecher des Führungsfahrzeugs informiert, was sie zu sehen bekommen, obwohl sie ja schon am Mitmachen der Polizei ablesen können, dass hier nichts Illegales passiert. Aber es ist schon gut, dass man sie informiert, denn die Blockierung des Autoverkehrs ist in einem Land der freien Fahrt für freie Bürger nahezu ungeheuerlich, zumindest wenn Radfahrer ebenfalls freie Bürger mit Vorfahrtsrechten sein wollen.



Eintausend Radfahrer
rollen zu dritt, viert oder fünft nebeneinander an mir vorbei. Die kilometerlange Schlange des lockeren, gut gelaunten Verbands will kein Ende nehmen. Endlich ist das Blaulicht des abschließend fahrenden Rettungswagens zu sehen, und wie er auf meiner Höhe ist, steige ich wieder aufs Rad und fahre los zur Spitze des Feldes. Mehrmals, am Start und während der Fahrt weist der Veranstalter über Lautsprecher darauf hin, dass die Teilnehmer an der linken Straßenseite eine Gasse für die Ordner lassen müssen. Aber in ihrer Glückseligkeit vergessen das viele und hören nicht Klingeln, nicht Rufe, sind mehr wie Kinder, die sich den Notwendigkeiten nicht fügen mögen. Mein guter Freund und Mentor Jeremias Coster sagt:

„Nach Heraklit ist der Krieg aller Dinge Vater,
aber die Mutter aller Dinge ist die Gedankenlosigkeit“.

So sehr ich mich über die gedankenlos dahin rollenden Radfahrer ärgere, sogar ihre Unberechenbarkeit fürchte, so sehr muss ich mich schämen, weil ich selbst bei der ersten Velo-City-Night überhaupt nicht auf die Ordner geachtet habe und sie eher als lästig empfand, wenn sie vorbei wollten. Mit den Worten des genialen F.W. Bernstein:

„Die schärfsten Kritiker der Elche
waren früher selber welche.“

Ein kleines Mädchen vor mir bringt mich und sich in Gefahr, denn als ich rufe: „Fahr bitte rechts!“, weicht sie nach links aus, so dass ich beinah mit ihr kollidiere und scharf bremsen muss. Im Vorbeifahren höre ich noch die Mutter fragen: „Wo ist rechts?“ und das Mädchen mault, beschämt seinen Fehler einsehend: “Jaaa!“

Einmal will sich ein Polizist nicht von mir ablösen lassen. „Ich muss zählen!“, sagt er. Und so ist die Teilnehmerzahl amtlich, wenngleich sie vom Veranstalter aus dem Lautsprecherwagen mitgeteilt wird. Am Ziel bin ich ziemlich erschöpft und dankbar, eine Flasche Radler zu bekommen. Ich werde gewiss wieder mitfahren bei der nächsten Velo-City-Night, aber nicht mehr als Ordner, der Mutter aller Dinge wegen. Zum guten Schluss noch eine sehens- und hörenswerte Liebeserklärung ans Radfahren, Velo Love in Bild und Ton:

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