Beine auf Abwegen – Hannover Marathon 2013

Maiwetter, linde Luft, blauer Himmel, prächtiger Sonnenschein, Hannover-Marathon. Ich sitze im Georgengarten auf der breiten Freitreppe des Wilhelm-Busch-Museums wie auf einer Tribüne, um die Parade abzunehmen. Zu Hause hatte ich nur einen flüchtigen Blick auf die Karte der Laufstrecke geworfen, so dass ich zuerst wähne, nah am Start zu sitzen. Dann müssten die ersten Läufer längst durch sein, denn jetzt ist es 10 Uhr, der Start war um 9 Uhr. Es herrscht aber noch Ruhe. Nur vereinzelte Spaziergänger haben den Weg so früh in den Park gefunden. Die meisten gehen ins Wilhelm-Busch-Museum, wo ein Konzert stattfinden soll.

Als die ersten Begleitmotorräder den Staub vor dem Museum aufwirbeln, merke ich, dass ich gegen Ende der Strecke warte, nämlich bei etwa Kilometer 38, wie ich später lese. Eine Weile schon stört ein Hubschrauber die sonntägliche Ruhe. Er kreist über der Strecke und kommt langsam näher. Der nervende Hubschrauber ist die Relaisstation für das Kameramotorrad, das natürlich beim ersten Läufer bleibt. Anders als bei einem großen Radrennen, wo der Spitzengruppe immer ein aufregend hupender Konvoi von Autos und Motorrädern voran fährt und Polizisten auf ihren Trillerpfeifen blasen, kommt der erste Läufer des Marathons ohne Tuten und Flöten heran.

Es ist ein
schmaler Schwarzafrikaner, nicht sehr groß, der offenbar kein Gramm Fett zuviel mitschleppt. Sein Schritt ist leicht und federnd, und Anzeichen von Müdigkeit sind nicht zu sehen. Das Kameramotorrad ist ihm dicht auf die Pelle gerückt, und der Kameramann tut alles, auch die geringste Regung in dem unbeweglich erscheinenden Gesicht einzufangen. Unklar bleibt, ob der Läufer das Klatschen sowie die aufmunternd anerkennenden Rufe der Zuschauer wahrnimmt. Wie ich noch in seiner Miene zu lesen versuche, da ist er auch schon vorbei. Am Ziel der 42,195 Kilometer langen Strecke durch Hannover wird der 30-jährige Südafrikaner Lusapho April nur 2:08:32 Stunden benötigt und damit einen neuen Streckenrekord aufgestellt haben.


Spitzenläufer April vor dem Wilhelm-Busch-Museum – Foto: Trithemius (größer: klicken)

Es dauert Minuten, bis der nächste Läufer auftaucht. Ich habe nicht genau gezählt, aber es scheint, als wären die ersten zehn Läufer allesamt Schwarzafrikaner gewesen, und alle ähnlich fipsig von Gestalt. Eine nebenan sitzende ältere Dame bekommt Zulauf von ihrer Freundin. Bevor sie sich zum Konzert aufmachen, sagt sie: „Also, Gerlinde, ich bin völlig fasziniert von den Schwarzafrikanern. Lauter schlanke, durchtrainierte Gestalten.“ So stellt man sich die Läufer der Savannen vor, wie sie dem Wild hinterher sind oder Nachrichten überbringen.

Plötzlich heißt es, gleich komme die erste Frau in Sicht. Woher die Information stammt, wie die Kunde heran geflogen ist, kann ich nicht sagen. Jedenfalls eilt die Nachricht der Ukrainerin Olena Burkovska voran. Schneller als die Läuferin ist die Nachricht von der Läuferin. Man spricht gemeinhin von einem Lauffeuer, mit dem sich Botschaften verbreiten, aber ich habe nicht beobachtet, dass da ein Lauffeuer aus dem Park heraus auf den staubigen Vorplatz des Museums gesprungen wäre. Frau Burkovska ist auch nicht langsam. Ihre Zeit am Ziel: 2:27:07 Stunden.

Der Nachricht hinterher: Olena Burkovska – Foto: Trithemius (größer: klicken)

Es folgen die ersten Europäer. Die meisten von ihnen sind erstaunlich muskulös. Kein Wunder, dass die Schwarzafrikaner soviel schneller sind und auch soviel eleganter laufen. Einigen Läufern sieht man ihren Fitnesszustand nicht an, man würde es ihnen nicht zutrauen, dass sie einen Marathonlauf bei 20 Grad im Schatten durchstehen könnten. Einige gar haben Figuren zum Fürchten, und wer krumm und schief gebaut ist, der kommt jetzt noch krummer und schiefer daher. Manche sind gefährlich nah am Zusammenbruch, kriegen vor Erschöpfung die Füße kaum noch hoch und wollen in der eigenen Staubwolke versinken. Ein Mann ist dabei, dessen Knie knicken tief ein, und sein rechtes Knie macht dabei eine sprunghafte Bewegung nach außen, so dass es wirkt, als wollte sich das Bein davonmachen, weg von seinem Besitzer, der es derart unnachsichtig quält, dass er ein gesundes Bein gar nicht verdient hat.

Eines lässt sich in der Gesamtschau sagen: Wer etwas für seine Figur tun will, sollte nicht laufen, sondern eine geeignete Sportart wählen, eine, die weniger verschleißt und vor allem den ganzen Körper gleichmäßig belastet. Es werden wohl beim Laufen sämtliche Haltungsschäden offenbar, und wenn sich die Erschöpfung breit macht, werden alle Fehlbildungen verstärkt, ja, selbst bislang kaum bemerkte zeigen sich jetzt. Natürlich muss man die Leistung jedes einzelnen würdigen, dessen Sieg über sich selbst. Man kann sich auch das erhebende Gefühl vorstellen, dass nach einigen Tagen der Erholung sich einstellt, wenn auch der langsamste sagen kann: Ich habe es geschafft, ich war dabei. Und wir haben ihm dabei zugesehen.

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