Boshafte Naturbetrachtung im Grünen

Auf das Waldrestaurant an der Mühle beim Annateich bewegt sich im lockeren Gänsemarsch eine Beerdigungsgesellschaft zu, gutsituierte Männer und Frauen mit ernsten Mienen. Wie sie der Reihe nach im Gasthaus verschwinden, um das Fell des teuren Toten zu versaufen, stelle ich mir vor, sie wären ans Ufer des Teichs gegangen und hinein, weil die dort heimischen Graugänse gerade ein aufgeregtes Geschrei anstimmen, als hätten sie sich davor erschreckt, wie schwarz gekleidete Gestalten eine nach der anderen ins Wasser gehen, immer weiter hinein, bis die Wellen über ihren Köpfen zusammenschlagen, und zuletzt sieht man hier und dort noch ein wenig schütteres Haar für Sekunden auf der Wasseroberfläche aufschwimmen, sich leicht ausbreiten, bevor es in die Tiefe gezogen wird. Dann blubbern die letzten Atemzüge nach oben, und endlich kehrt Ruhe ein.

Dass eine ganze Beerdigungsgesellschaft ins Wasser geht, wird den Teich leider überdüngen, und es wird Algenwachstum geben bis zum Umkippen des Teichs. Davor warnt sowieso bereits ein Schild. Man solle doch bitte die Graugänse nicht füttern, und Beerdigungsgesellschaften sollten sich fernhalten. Weil: Zuviel Kacke im See mit all ihren unerquicklichen Folgen. Ach, was für morbide Phantasien, wo doch der Wald so prächtig ergrünt und ein Vogelgezwitscher ringsum durch die Luft schießt, dass es eine Lust ist.


Der Annateich – Vor Tauchgängen wird gewarnt – Foto: Trithemius (größer: Klicken)

Ob die Vögel mit den Rufen der jeweils anderen Arten etwas anfangen können? Nehmen sie deren Flöten, Pfeifen, Tirilieren als etwas Verwandtes wahr wie der Mensch, der die verschiedenen Rufe unter Gezwitscher subsumiert? Oder versuchen sie die Rufe der anderen Arten auszublenden als störende Geräusche? Die Schreie der Graugänse jedenfalls sind eindeutig kein Vogelgezwitscher. Sie klingen eher wie der Lärm aus verbeulten Trompeten. Paarweise kommen die Gänse von den angrenzenden Wiesen geflogen, schießen synchron über die Wasserfläche, um dann mit ausgestellten Füßen zu wassern. Warum sie dabei unentwegt schreien müssen als ginge es ihnen an den Hals, man weiß es nicht. Aber da ihr Geschrei wirklich nicht angenehm anzuhören ist, wundert es nicht, dass man die Gans als Schlachtvieh domestiziert hat. Der Augenblick ihres Verstummens beim Halsumdrehen muss wunderbar sein. Da wird sogar mancher Vegetarier zustimmen.

Ich weiß, dass die Graugans bei der Verhaltensforschung hoch im Kurs steht. Konrad Lorenz hat ihr Verhalten genau untersucht. Das Genaue aber weiß ich nicht, eigentlich nur, was der Cartoonist Hans Traxler als wertvolle Quintessenz herausgearbeitet hat:

„Das interessiert den Forscher, den Alten,
ob Gänse sich wie wir Menschen verhalten.
Jawohl, sie tun’s, besonders die grauen
Sind akkurat wie unsere Frauen.

Mach ihnen den Hof,
das finden sie doof
Wende dich ab,
das bringt sie auf Trab.“

(Hans Traxler; Freud in der Krise)

Es heißt natürlich hochsprachlich nicht „Fell versaufen“, sondern „Leichenschmaus“, ein schrilles Wort. Man denkt sich die Angehörigen wie schwarze Raben rings um eine Leiche, wie sie nach und nach etwas heraushacken, sich aber gegenseitig die fettesten Stücke neiden. Und wie geladen landet eine fette Krähe vor dem Eingang des Gasthauses und stolziert auf ihn zu als gehöre sie zur Trauergesellschaft. Der Gang der Krähe wirkt immer ein bisschen arrogant. Sie wackelt stolz mit dem Arsch, obwohl sie nicht mal singen kann. Manche Menschen sind genauso. Die wackeln mit dem Arsch, tragen die Nase hoch und man weiß nicht warum. Die einzige Qualifikation, die sie vorzuweisen haben, ist stolzer Gang und hohe Nase. Unsereiner meint, er müsse etwas Besonderes leisten, aber das ist Quatsch. Arroganz und Arschwackeln reichen völlig, die Mitmenschen zu beeindrucken. Dass sie den Grund nicht kennen, schreiben sie ihrer Unwissenheit zu.

Einmal, schon lange ist’s her, habe ich mich über einen Berufsschullehrer geärgert. Wir lernten bei ihm Holzschnitt und nannten ihn daher Holzwurm. Holzwurm kam immer in einem Kabrio angefahren, aber es war ein kleines, hässliches Auto ohne Klasse, ein richtiges Holzwurmauto. Man sah diesem Auto an, dass der Berufsschullehrer gern etwas Besseres gewesen wäre, aber leider im Holzwurmdasein gefangen saß. Einmal kam er zu spät zum Nachmittagsunterricht. Da berichtete er stolz, er habe an der Tankstelle Gunter Sachs getroffen, weshalb wir leider hatten warten müssen.

Gunter Sachs war direkt von den Titelseiten der Hochglanz-Schmockpresse herabgestiegen in Holzwurms enge Welt und hatte etwas sehr Profanes getan. Er betankte seinen Porsche, worin eine blonde Schönheit wartete. Betankte den Porsche genau wie Holzwurm sein Holzwurmkabrio ohne blonde Schönheit betankte. Aber das Beste sei gewesen, dass Gunter Sachs einen Maßanzug aus Sackleinen getragen hatte. Da hatte sich Holzwurm ein Herz gefasst und Gunter Sachs gefragt: „Entschuldigen Sie, dass ich Sie so einfach anspreche, aber sind Sie Gunter Sachs? Und ist Ihr Anzug etwa aus Sackleinen?“ Und Gunter Sachs hatte ihn gönnerhaft einer Antwort gewürdigt und bestätigt: „Ja, ich bin Gunter Sachs, und mein Anzug ist aus Jute.“ Und ich dachte: Das ist würdelos. Ich will keinen Lehrer, der vor einem Mann katzbuckelt, dessen wesentliche Qualifikation darin besteht, ein Millionenerbe im maßgeschneiderten Kartoffelsack zu sein. Sowas macht mir Weltekelherpes. Davon krieg ich Plack am Mund. Dabei wusste ich damals noch gar nicht, dass Gunter Sachs ein Steuerbetrüger großen Stils war, wie erst jüngst durch Offshore Leaks bekannt geworden ist.

Zwei junge Frauen radeln vorbei. Die eine ruft: „Mein kleiner Bruder hat sich eine Sonnenbrille gekauft und sagt: ‚Charlotte, nenne mich jetzt bitte nur noch Mister Cool-Man!’“ Charlottes kleiner Bruder hat offenbar schon früh gemerkt wie der Hase läuft. Nur ich will einfach nicht wahrhaben, dass wir sind wie die Graugänse, wo der größte Schreihals und sein Bürzel die meiste Aufmerksamkeit bekommen.

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