Ich will Ina Müller nicht singen hören

Die Isar durchfließt in Münchens Süden ein renaturiertes Gebiet, in dem sich der Fluss seinen Weg durch unzählige Kiesbänke und Verzweigungen suchen kann. Dieses von Grünanlagen gesäumte Gebiet heißt Flaucher. Der Flaucher ist ein beliebtes Naherholungsgebiet und an sonnigen Tagen so überlaufen wie alles in München. Am vergangenen Sonntag war es in München hochsommerlich warm, beinahe zu heiß. Die grelle Sonne ließ Kies und Geröll weiß aufblitzen, und rundherum war alles noch braun wie in der Hitze verdorrt. Ich fühlte mich von dem plötzlichen Übermaß an Licht überfordert. Der Aufmerksamkeitsfluss meines Denkens verlor die Richtung und schien sich zu verzweigen wie die Isar am Flaucher. Mein Denken wurde urplötzlich auf verwirrende Weise renaturiert, strudelte hurtig dahin, stockte mal hier, mal dort, sprang über Hürden und wechselte die Richtung, wie es gerade lustig war.

In solchen surreal anmutenden Zeiten kann man seltsame Dinge erleben. So fiel dem Lokführer eines Zuges, der eigentlich am Montagmorgen von München über Hannover nach Bremen fahren sollte, dem fiel in Würzburg ein, dass er ja Feierabend hätte. Draußen schien gar prächtig die Sonne, und irgendeine Frau würde vielleicht gern mit ihm in irgendeinem Würzburger Biergarten sitzen … In der Folge musste der Zugchef des ICE-Ersatzzuges folgende, für alle Beteiligten peinliche Durchsage machen:

„Sehr geehrte Fahrgäste! Die Abfahrt unseres Zuges wird sich noch verzögern. Der Grund dafür: Unser Lokführer ist über seine vorgesehene Dienstzeit hinausgekommen.“

Dieses Überschreiten der vorgesehenen Dienstzeit muss plötzlich gekommen sein wie eine Deichüberflutung oder heuer der Frühling, war also höhere Gewalt. Da man leider keinen Ersatzlokführer in Würzburg auftreiben konnte, wurde der Zug ganz stillgelegt, und die Reisenden mussten den nächsten ICE nach Hamburg nehmen, was besonders die ärgerte, die eigentlich nach Bremen hätten fahren wollen. Folglich wurde viel geschimpft.

Zuvor aber, noch im stillgelegten Zug, hatte ich aus einem Waggon einen schrägen Mädchenchor gehört. Der intonierte ein Schmäh- und Spottlied mit dem Refrain: „Thank you for traveling with Deutsche Bahn.“ Ich habe das Original im Internet gefunden und empfehle unzufriedenen Bahnreisenden, es zu lernen und gegebenenfalls um eigene Erfahrungen zu erweitern. Das Absingen dieses Liedes ist in jedem Fall besser, schöner und entlastender als Herumfluchen, „Arschlöcher!“, „Arschlecken!“, und sinnlose Beschwerden bei hilflosem Bahnpersonal. Der Zorn trifft ja niemals die eigentlich Verantwortlichen. Ein Spottlied hingegen hat Flügel und findet irgendwann die richtigen Ohren.

Denkende Menschen interessieren sich nicht dafür, was auf den Titelseiten der Regenbogenpresse steht, wie kein vernünftiger Mensch die Nase freiwillig in Kotze, schleimigen Auswurf oder Scheiße steckt. Aber bei meiner Odyssee mit der Deutschen Bahn sah ich mir aus Langeweile die Titelseite der Zeitschrift „Freizeitspass“ an, mit der eine fluchende Mitreisende, „Arschlöcher!“ „Arschlecken!“, die Box abgedeckt hatte, in der ihr Köterchen schlummerte. Da war ich erstaunt, was nach der Vorstellung der Redaktion als Freizeitspass gilt: „Todeskampf im Pazifik“, Hass-Attacken“ und „Tierquälerei.“ Müsste derlei „Freizeitspass“ nicht eigentlich verboten werden?

Ach so, die Überschrift: Ich weiß nicht, was mich an dieser Sängerin nervt. Vielleicht ist es der vermeintliche Tiefgang ihrer Texte. In München sah ich jedenfalls auf der Fensterbank einer Frauenwohnung einen runden Stein, in den war eingeritzt: „Auch die Ewigkeit besteht aus Augenblicken“. Der Spruch hat mich eine Weile beschäftigt, denn ich kann überhaupt keinen Sinn in dieser vermeintlichen Erkenntnis finden. Wer so ein seichtes Zeug in Stein ritzen lässt, findet vielleicht auch Ina Müller gut.

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