Warum Herr Gottschalck nächtens über meinen Flur schleicht

Der März neigt sich dem Ende zu, doch noch immer hat der Winter die Tage im eisigen Griff. In den Nächten, wenn in den Wohnungen die Heizungen schlafen, dann bekommt das Haus eine Gänsehaut und macht sich kältestarr, während der Frost ins Mauerwerk zieht. Die Dielen beginnen zu knarren, die erkalteten Heizungsrohre knallen, die Wände knistern und flüstern. Es braucht nicht viel Phantasie, sie erzählen zu hören, von meinem Vorbewohner etwa, der ein überaus seltsamer Mann gewesen ist, niemals mit den Nachbarn sprach, und nie verließ er die Wohnung ohne Hut. Seinen Namen hörte ich nicht. Wir wollen ihn Gottschalck nennen.

Herr Gottschalck war von Beruf Korrektor, und sein Arbeitsplatz war ein Glaskasten inmitten einer großen Verlagssetzerei gewesen. Einst war er Schriftsetzer, doch als er in die Jahre kam, machte sein krummer Rücken ihm zu schaffen. Er konnte die schweren Kästen mit den Bleilettern nicht mehr wuchten. Als Herr Oster, der Oberkorrektor des Hauses, plötzlich verstorben war, da wurde Herr Gottschalck in den Glaskasten befördert, um Korrekturfahnen zu lesen und Fehler aufzusuchen. Denn jede Druckerei hat einen ungebetenen Bewohner, den Druckfehlerteufel.

Wie der Druckfehlerteufel zu seinem Namen kam, lässt sich nicht zuverlässig sagen. Der britische Kalligraph Donald Jackson gibt in seinem lesenswerten Buch, Die Geschichte vom Schreiben, folgenden Hinweis:

„Ein Buch von 172 Seiten, das in einer Klosterdruckerei 1561 hergestellt wurde, enthielt nach dem Befund des Korrektors so viele Fehler, dass die Liste der Korrekturen ganze 15 Seiten umfasste. Der Herausgeber schrieb die Fehler den Einwirkungen des Teufels zu: Das Manuskript scheine irgendwie in einem Hundestall durchtränkt worden zu sein, ehe es den Drucker erreichte, der es dann auf Armeslänge zu lesen hatte, als er die Buchstaben setzte, was so zu den zahllosen Fehlern führte.“

Die Autoren und Dichter der Bleizeit haben allerdings nie an den Druckfehlerteufel geglaubt, wie sie überhaupt meistens an gar nichts geglaubt haben außer an ihre eigene Omnipotenz. Sie gaben den Schriftsetzern die Schuld. Vermutlich werden sie selten ein stinkendes Manuskript abgeliefert haben, das der Setzer auf Armeslänge halten musste. Aber es ist schon eine große Kunst gewesen, jede Handschrift zu entziffern. Zumal mancher Autor gewiss die eigene Genialität darin bestätigt fand, besonders unleserlich zu schreiben, wie heutige Ärzte sich ja auch etwas darauf einbilden, weshalb sie sich vermutlich darin ausbilden lassen.

Der zweifellos geniale Dichter E.T.A. Hoffmann klagt in einem Brief an Jean Paul über die Druckfehler in den „Lebensansichten des Katers Murr“: „Nicht umhin kann ich (…) zu bemerken, dass mein Verleger so glücklich gewesen ist, einen Setzer ausfindig zu machen, der mit ganz besonderer schalkischer Schlauheit dem Autor die anmutigsten Überraschungen bereitet, indem er noch in die Aushängebogen seltsame Wörter von eigner Erfindung hineinzuschwärzen weiß.“ Im „Vorwort des Herausgebers“ rächt sich E.T.A Hoffmann: „Wahr ist endlich, dass Autoren ihre kühnsten Gedanken, die außerordentlichsten Wendungen, oft ihren gütigen Setzern verdanken, die dem Aufschwunge der Ideen nachhelfen durch sogenannte Druckfehler.“

Ähnliche Erfahrungen hat der Schriftsteller, Sprach- und Kulturkritiker Karl Kraus gemacht. Der gestrenge Kraus, dem wir das schöne Wort „Journaille“ verdanken, spricht von der „Wehrlosigkeit des Geistes vor dem Druck“ und wird gar dramatisch: „Wer vom Buchstaben lebt, kann vom Buchstaben sterben, ein Versehen oder der Intellekt des Setzers rafft ihn dahin.“ Immerhin versteckt sich in der Erwähnung des Versehens die Einsicht, dass auch der Autor sich vertun kann. Aber in der Hauptsache sind doch die Setzer schuld. Kraus empfiehlt: „Das Wort Polyhistor muss man schon sehr deutlich schreiben, damit der Setzer nicht Philister setzt. Ist dies aber einmal geschehen, so lasse man es auf sich beruhen, denn es ist immer noch die mildere Fassung. Einmal las man von einem, er sei ein bekannter Philister. Das glaubte man gern, und hielt dann die Berichtigung für einen Druckfehler.“

Locker sah das der österreichische Caféhausdichter, Philosoph und Essayist, der gelehrte Doktor Egon Friedell. In einem Manuskript einer Theaterkritik hatte er den Namen Hamsun erwähnt. Der Setzer hatte das verlesen und Haresu daraus gemacht. Weil Friedell mehrmals auf den geheimnisvollen Haresu angesprochen wurde, erfand er kurzerhand einen japanischen Dichter dieses Namens, schrieb dessen Biographie und skizzierte vermeintlich kenntnisreich sein Werk. Haresus letzte Worte sollen gewesen sein: „Ich komme wieder.“ So produktiv kann ein Druckfehler sein.

Auch Friedells Kollege Alfred Polgar nahm es mit Humor: „Der Schriftsetzer hat es ja, ich gebe es zu, nicht leicht. Man zwingt ihm oft Sachen auf, die seiner innersten Natur ganz und gar widersprechen. Aber er wehrt sich! Versuchen Sie einmal, ihn mit dem Wort „kosmisch“ hineinzulegen. Im Druck wird doch immer, auch wenn Sie das „s“ in einem eigenen eingeschriebenen Brief mitgeschickt haben, „komisch“ stehen. Das Kosmische ist nun einmal für den Setzer das Komische, und nichts wird ihn von dieser Weltanschauung – die ja ihr Apartes hat – abbringen.“

Gut zwanzig Jahre lang hat Herr Gottschalck das schädliche Wirken des Druckfehlerteufels bekämpft, ist morgens früh aufgestanden, und nachdem die morgendlichen Verrichtungen erledigt waren, hat er den Hut aufgesetzt und ist in den Verlag gegangen, um sich im Glaskasten zu verkriechen und, mit Rotstift und Duden bewaffnet, Druckfehler auszumerzen. Mit Korrekturzeichen, für die es in Deutschland natürlich eine DIN-Vorschrift gibt, beschmierte er die Korrekturabzüge wie die Fahnen chinesischer Räuberbanden. Wie oft hatten Schriftsetzerkollegen eine Korrekturfahne in seine Korrektorenstube getragen. „Wenn’s doch eine Jungfrau wäre“, hat da mancher gehofft. Doch eine „Jungfrau“ hat der gestrenge Herr Gottschalck ihnen selten gegönnt. „Deshalb heißt ein fehlerloser Druck ja auch Jungfrau, weil er so selten wie eine Jungfrau ist!“, hatte er geknurrt.

Wenn Herr Gottschalck seine Arbeit gut gemacht hat, dann war von seinem Wirken rein gar nichts zu sehen. Es drang nicht über die Mauern der Setzerei hinaus. Das mag der Grund gewesen sein, warum man in den Verlagen glaubte, auf Korrektoren verzichten zu können, als die Satzcomputer aufkamen mit ihrer eingebauten Rechtschreibprüfung. Aber Herr Gottschalck hatte seine Arbeit aus einem anderen Grund verloren. Ein einziges Mal war ihm ein folgenschwerer Druckfehler dadurch gegangen. Einmal hatte der Druckfehlerteufel ihn besiegt. In „Anton Voyls Fortgang“, der deutschen Fassung von Georges Perecs Roman ohne „e“, La Disparition, einem so genannten Leipogramm, da hatte Herr Gottschalck auf der ersten Seite des Vorworts ein „e“ übersehen. Die gesamte Auflage des Buches war verdorben. Herr Gottschalck ist von diesem Buchstaben tatsächlich gestorben. Er hat sich im Papierkeller mit dem Lastenaufzug erhängt.

Darum also findet Herr Gottschalck keine Ruhe und muss nächtlicher Weise über meinen Flur schleichen. Er muss wiederkommen wie der japanische Dichter Haresu, der natürlich Buddhist gewesen war und dessen Ankündigung ein selbstkritischer Hinweis darauf war, dass er in diesem Leben, von Egon Friedell mit einem Schriftsetzer gezeugt, den Zustand der Vollkommenheit noch nicht erreicht hatte.

Aber ich will nicht, dass Herr Gottschalck über meinen Flur schleicht. Es ist ihm ja durch eine Wiederkunft nicht zu helfen. Denn wie kann er in seinem Metier vollkommen werden, wenn es für Korrektoren kaum noch Bedarf und Stellen gibt? Den Zeitungsverlagen ist es nämlich inzwischen egal, wenn in ihren Machwerken Druckfehler, Stilblüten oder sachliche Fehler stehen, wie der Kollege Nömix in seinem Blog fast täglich belegt. Und wir, die wir im Internet publizieren, können sogar jeden Fehler nachträglich ausmerzen und haben erst recht keinen Bedarf an Wiedergängern, bester Herr Gottschalck! Sehen Sie hier:

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