„Hl. Joseph, bitt’ für uns!“ – Die Biographie des Regals

Ein Beitrag zum Regalprojekt des Kollegen Shhhhh

Mein Bücherregal besteht aus vier senkrecht unterteilten Elementen. Das linke Element hat im unteren Teil zwei Glastüren. Dahinter befinden sich Bücher, die ich besonders vor dem Verstauben schützen will. Die Entsprechung der beiden Regalböden im Element ganz rechts ist meiner Dudensammlung vorbehalten. Es gab eine Zeit, in der ich mich intensiv für die Entwicklung der deutschen Orthographie interessiert habe. Daher habe ich die verschiedenen Ausgaben des Dudens von 1901 an gesammelt. Dazu bin ich gern auf Flohmärkten gewesen und habe nach alten Duden gesucht, bis etwas geschah, was meine Sammelfreude getrübt hat. Davon später.

In den 90er Jahren habe ich als Deutschlehrer an einem Fortbildungsseminar zum Projekt „Zeitung in der Schule“ teilgenommen. Es fand in Neu-Isenburg statt, im Druckhaus der damals noch stolzen Frankfurter Rundschau. Am Samstagmorgen mussten wir eine Rechercheübung machen. Wir sollten ein selbst gewähltes Thema recherchieren und einen Zeitungstext verfassen. Dazu wurden wir mit einem Bus in ein großes Einkaufzentrum in Neu-Isenburg gefahren. Wir hatten nur eine halbe Stunde Zeit, und nachdem ich eine Weile ziellos herumgelaufen war, fand ich mein Thema im Schaufenster einer Buchhandlung. Hier die gekürzte Fassung meines Zeitungstextes:

„Hl. Joseph, bitt’ für uns!“ – Über Duden und Orthographiereform

Zwischen den Seiten Krummbein – Kuckucksblume und Kuddelmuddel – Kulturerbe der alten Dudenausgabe steckt ein vergilbtes Gebetbuchbildchen. Es zeigt in schlichtem Schwarzweißdruck den Hl. Joseph mit dem Jesuskind auf dem Arm und einem schlanken Kreuzstab in der Rechten. Im Hintergrund geht ein Wasserfall nieder. Der hat etwas von einem faltig ausgebreiteten Bettuch (demnächst Betttuch). Darunter steht. „Hl Joseph, Patron der Sterbenden, bitt’ für uns!“ Dieses artige Lesezeichen ist eine unerwartet fromme Botschaft aus der frühen DDR. Das Buch aus dem VEB Bibliographisches Institut Leipzig ist eins von acht anderen Dudenausgaben vergangener Zeiten, die im Schaufenster einer Buchhandlung um einen neuen Duden gruppiert sind.

„DM 8 für Ihren alten Rechtschreibduden beim Kauf eines neuen“, heißt die Aktion im Herbst 1996, mit der man den Verkauf des neuen Duden ankurbeln will. „Am Anfang haben die Leute das Angebot rege genutzt“, erzählt die Buchhändlerin, die den Duden für mich aus dem Fenster genommen hat. Natürlich akzeptiert man auch Ausgaben aus der DDR, denn inzwischen ist der Leipziger VEB vom Mannheimer Dudenverlag aufgekauft worden. Man reißt jedem abgelieferten alten Duden den Innentitel heraus und schickt diese Seite als Beleg an den Verlag. Das Buch landet im Altpapier.

Weil ihm schon der Innentitel fehlt, lässt sich zunächst nicht ermitteln, wann das Exemplar aus dem Schaufenster erschienen ist. Das Vorwort verrät, dass es sich um die erste Ausgabe nach der Trennung von Duden Ost und Duden West handelt. Im Jahr 1955 war der Mannheimer Lizenzausgabe des Leipziger Dudens durch die Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) für die Bundesrepublik amtliche Geltung verliehen worden. Als Reaktion darauf ging man in Leipzig eigene Wege. Gegen die 16. Auflage des Mannheimer Dudens von 1956 setzten die Leipziger 1960 eine eigene Ausgabe und nannten sie „Der Große Duden“.

Dieser Umstand hat das zeitgeschichtlich wertvolle Exemplar aus dem Schaufenster vor dem Einstampfen bewahrt, denn sein Umschlag trägt eine orthographische und typographische Ungeheuerlichkeit: DER GROßE DUDEN. Nie hat es im Deutschen ein großes Eszett gegeben, es ist eine Ligatur aus zwei Kleinbuchstaben, dem langen und dem runden s der Fraktur. Die Schreibung DER GROßE DUDEN verstößt sogar gegen die Regeln im Buchinnern. Im Regelteil dieser Ausgabe von 1960 steht: „Das Schriftzeichen ß fehlt leider noch als Großbuchstabe. Bemühungen, es zu schaffen, sind im Gange.“ Die falsche Schreibung „GROßE“ war also der Versuch der Leipziger Dudenredaktion, die angeblichen Bemühungen um ein großes ß als Ergebnis vorwegzunehmen, – ein eigenmächtiger Eingriff in die amtlich festgelegte Schreibweise, eine arrogante Anmaßung der Dudenmacher, wie sie in beiden Dudenredaktionen zu finden war.

So wirkt denn die Eintausch- und Vernichtungsaktion des Dudenverlags wie ein Versuch, die eigenen fatalen Spuren in der fast 100-jährigen Geschichte der amtlichen Orthographie zu verwischen, in der Zeit also, in der der Duden „maßgebend in allen Zweifelsfällen war“. Wer seinen alten Duden gegen eine Gutschrift eintauscht, beraubt sich erstaunlicher Einsichten. Denn im Vergleich der verschiedenen Auflagen lässt sich nachvollziehen, wie willkürlich der Duden die Rechtschreibung beeinflusste, ohne ein Mandat dafür zu haben. Die Kultusminister hatten die amtliche Orthographie einem privatwirtschaftlichen Verlag überlassen, ohne den Interessenskonflikt zu sehen. Indem die Dudenredaktionen recht kunstvoll verworrene Rechtschreibklippen auftürmten, steigerten sie den Absatz des Dudens. Mit der Unsicherheit der schreibenden Deutschen ließ sich eine Menge Geld verdienen. Nicht umsonst war der Duden jahrelang der Verkaufsrenner, über dessen Auflage der Verlag vornehm die Auskunft verweigerte.

(Folgt eine Aufstellung der willkürlichen Veränderungen und Ausdifferenzierungen)

Die Buchhändlerin will das ramponierte Zeitdokument nicht herausgeben. „Ich muss den Geschäftsführer fragen, und der ist erst am Montag wieder da.“ Unter dem Werbeschild „Duden ENDLICH!!!! DM 38″ entspinnt sich eine zähe Verhandlung. Soll dieses Buch so einfach auf den Müllhaufen der Geschichte fliegen? Muss denn das Alte immer dem „ENDLICH!!!!“ Neuen weichen? Ist nicht die Übelschreibung auf dem Titel des Exemplars ein ausreichender Rettungsgrund? „Nein, nein, das kann nur unser Herr M. entscheiden!“

Als alles verloren scheint, hilft endlich der Hl. Joseph und schickt einen Mitstreiter herbei. Von dessen Charme lässt sie sich erweichen. „Aber verkaufen kann ich das nicht mehr“, wendet sie noch ein, „höchstens schenken.“ Der Dudenverlag hätte sich seine 8-DM-Prämie ebenfalls schenken können. Man muss ihm nicht die herausgerissenen Titelblätter ausliefern wie die abgehackten Schwänze erlegter Ratten. Seine alten Kinder verdienen ein trockenes Plätzchen im Bücherregal. Sie beweisen, dass Orthographie nicht vom Himmel gefallen und in steinerne Tafeln gegraben, sondern Menschenwerk ist, das verändert werden kann.

Soweit also der Text. Der Duden steht jetzt in meinem Regal. Der Text dazu sollte eigentlich in der Frankfurter Rundschau abgedruckt werden, ist aber dort nie erschienen, wohl aber im Jahrbuch meiner Schule, das ebenfalls im Bücherregal steht. Einige Jahre später schenkte mir eine Freundin zu Weihnachten einen ganzen Stapel alter Dudenausgaben, die sie bei Ebay für mich ersteigert hatte. Seither sammle ich nur noch halbherzig. Denn willst du einen Sammler unglücklich machen, musst du ihm eine fast komplette Sammlung schenken. Mit der Orthographiereform hat der Duden übrigens seine amtliche Geltung verloren.

Folge 4 Lieber der Spatz im Regal von Marana

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