Früher war hier alles schöner

Dass Hippopotomonstrosesquippedaliophobie die Angst vor langen Wörtern bezeichnet, hätte man sich denken können. Wie aber bezeichnet man die Angst, aus dem Fernsehgerät könnten kleine Männchen heraussteigen, die Dinge stehlen und gegen schlechtere Dinge austauschen?

Nach meiner Lesung im Zensurfrei, sagte ein Freund, einer meiner Texte habe ihn an seine Zeit als Zivildienstleistender erinnert. Da habe er eine alte Frau gekannt, die genau diese Vorstellung hegte. Einmal habe er gesagt: „Da haben Sie aber einen schönen Blumenstrauß.“ Sie aber wehrte ab, der sei zuvor viel schöner gewesen, aber dann wären die aus dem Fernseher gekommen und hätten den Strauß gegen schlechtere Blumen ausgetauscht. Der Freund sagte, gewiss habe diese Wahnvorstellung einen Namen, was mich zunächst dazu veranlasst hat, die Liste der bekannten und benannten Phobien durchzusehen.

Doch die ganze Zeit habe ich mich gefragt, was genau zu dieser Wahnvorstellung geführt haben könnte. Meine Großmutter hatte das erste Radio im Ort. Es war in einem Schrank untergebracht. Als einmal ein kleiner Junge zu Besuch war, der Freund ihres jüngsten Sohnes, ertönte aus dem Schrank eine Stimme. Da rief der Junge entsetzt: „Tant, Tant, do is ene Kääl im Schaaf!“ (Tante, Tante, da ist ein Mann im Schrank!)

Aus einer ähnlich naiven Haltung gegenüber Rundfunkgeräten könnte die Idee stammen, Fernsehgeräte wären von kleinen Männchen bevölkert. Sie müssen kleiner sein als übliche Menschen. Sonst würden sie ja nicht ins Fernsehgerät passen, was zumindest für die Zeit vor den Fachbildschirmen gilt. Dass diesen Männchen nicht zu trauen ist, sieht man beständig. Bei der Übermacht von Kriminal- und Actionfilmen im TV-Programm könnte man tatsächlich auf die Idee kommen, das Fernsehen würde von Kriminellen dominiert.

Die bildnerischen Mittel des Fernsehens werden eingesetzt, um die dargestellte Gegenwart zu überhöhen. In den Spots des Werbefernsehens beispielsweise scheint alles besser und schöner zu sein als in der Lebenswirklichkeit eines durchschnittlichen Menschen. Das Gras ist grüner, der Himmel blauer, die Menschen sind attraktiver und offenbar glücklicher, die Lebensverhältnisse besser, die angepriesenen Produkte sind optimal ins Bild gesetzt, Beschränkungen durch die Physik sind ausgehebelt und vieles mehr.

Angenommen, man kauft einen Blumenstrauß und stellt ihn in die Wohnstube, dann ist der Anblick zunächst etwas Besonderes. Aber schon beim zweiten Betrachten ist er redundant, und mit der Zeit nutzt sich der Anblick zunehmend ab. Der erste positive Eindruck schwindet und ist nicht mehr zurückzuholen, zumal ein Blumenstrauß verwelkt. Schuldige für diesen Prozess der Banalisierung zu finden, entlastet von der Idee der Vergänglichkeit unserer Welt. Im übertragenen Sinne ist die Erklärung der alten Frau sogar plausibel. Indem das Werbefernsehen stets ein überhöhtes Ideal zeigt, banalisiert es die Realität und stiehlt ihr ständig die Bedeutung. Somit hat die alte Frau eine passende Metapher dafür gefunden, wie Medien auf unsere Wirklichkeitserfahrung einwirken. Bleibt noch die Frage, wie wir das benennen.

P.S.: Hier stand vorher ein viel besserer Text. Boshafte kleine Internetmännchen haben ihn gegen einen schlechteren ausgetauscht.

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