Wo das Ich die Schwindsucht hat

Als wir uns noch gar nicht lange kannten, schoss die kleine Tochter meiner Exfreundin aus dem Nichts die Formel: „Hab dich lieb!“ auf mich ab. Das machte mir mehrmals eine Sorte Zungenlähmung. Sie hinderte mich, eine ähnliche Beteuerung zurückzugeben. Offenbar hatte sie für mich noch wesentlich mehr Gewicht als für das Kind. Zurückzugeben wäre aus meinem Gefühl: „Ich hab dich auch lieb!“ Das Personalpronomen „Ich“ wegzulassen, wie es neudeutsch üblich geworden ist für emotionale Schnellschüsse, war mir unmöglich.

„Hab dich lieb!“, „Drück dich!“, „Wünsch dir gute Besserung!“ – all diese Formeln kann man als sprachliche Ellipsen verstehen. Das Urheber-Ich muss man sich dazu denken. Als grammatisch vollständige Sätze betrachtet, sind es aber Imperative, Befehlssätze. „Wünsch dir gute Besserung!“ Wünsch dir das selbst, du Kranköllig (kranke Zwiebel), ich kann mich gerade nicht damit belasten. Indem er das Ich weglässt, verweigert der Sprecher/Schreiber quasi die Verantwortung und verweist den Angesprochenen auf sich selbst. Und man möchte ihm auch raten, sich prophylaktisch selbst zu drücken und selbst lieb zu haben, weil’s ihm von der ihm nahe stehenden Person vorenthalten wird.

Was ist der Grund für das Verschwinden des Ichs aus intimen Sätzen? Offenbar bildet hier die Sprache eine kulturelle Entwicklung, eine Tendenz ab. Zeigen sich in dieser Spielart der sprachlichen Ökonomie die Flüchtigkeit, Gleichgültigkeit und zunehmende Beliebigkeit heutiger Beziehungen sowie die Angst, sich zum anderen zu bekennen?

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