Gedanken unter der Kreissäge

Bei einem Nachbarhaus wird das Dach repariert. Vielleicht baut man sogar einen neuen Dachstuhl. Das Haus ist wie seine Nachbarhäuser zu hoch, als dass man von der Straße unten sehen könnte, was auf seinem Dach genau passiert. Auf jeden Fall höre ich seit Tagen eine Kreissäge. Schon als kleiner Junge mochte ich keine Kreissägen beim Sägen hören. Ich krieg dann eine permanente Gänsehaut und fühle mich unwohl. Die Dinger müssten, wenn es gerecht zugehen würde in der Welt, „Kreischsägen“ heißen, und nicht der Verursacher an der Kreischsäge, sondern alle Anwohner und Passanten müssten Ohrenschützer bekommen.

Wer die Bezeichnung „Kreissäge“ sich erdacht hat, war schon auf dem richtigen Weg gewesen, hatte nur vor der letzten Konsequenz halt gemacht, war wohl vor dem „ch“ zurückgeschreckt. Vermutlich war’s der Erfinder. Der hat sich gedacht: „Eine Kreischsäge kauft doch kein Schwein. Also nenne ich sie lieber Kreissäge. Klingt auch viel vornehmer.“

Die Setzerei, in der ich das Schriftsetzerhandwerk gelernt habe, ging zu den Hinterhöfen raus, und einer der Hinterhöfe gehörte zu einer Metzgerei. Freitags wurden da immer Knochen gesägt. Den lieben langen Freitagmorgen kreischte die Kreischsäge sich durch Knochen. Es klang anders als bei Dachlatten. Knochen kreischen, als wäre das lebendige Schwein noch dran.

Im Hinterhof der Metzgerei ging es wüst zu. Einmal hat der Meister seinen Knochen sägenden Gesellen in den Hintern getreten, worauf der nach vorne fiel und sich ein paar Finger absägte. Wir wehrten uns gegen derlei Unkultiviertheit, Gekreisch und Geschrei mit der Schrift. Im Kasten der 10 Punkt Futura waren so viele Lettern, da konnten wir einige entbehren. Einer der Gesellen griff ins e-Fach, streckte die geschlossene Hand zum Fenster raus und warf die Bleilettern in den Hof. Von unten bei den Wurstbütten erscholl Wutgeheul. Die Metzger drehten den Wasserhahn auf und versuchten mit einem Schlauch in die Setzerei zu spritzen, wobei sie „Ihr Scheißdrucker!“ riefen. Das traf uns nicht. Wir waren ja gar keine Drucker, sondern Schriftsetzer.

Nach diesem kleinen Exkurs über Streiche, Spott und Schabernack wieder zu einem ernsten Thema. Gestern titelte die Tagesschau: „Betreuungsgeld: Koalition sucht fieberhaft nach einer Lösung.“ Fieberhaft? KREISCH!!! Was muss man sich darunter vorstellen? Wahnhaftes Verhalten? Wie FDP-Generalsekretär Döring, Ministerpräsident Horst Seehofer und Frau Bundskanzlerin Merkel mit hochroten Köpfen hektisch im Mist- und Müllhaufen ihrer Politik wühlen, Sachen aufheben, anschauen und wieder fallen lassen?

Sollte Politik überhaupt irgendwas mit Fieberwahn zu tun haben? Wäre da nicht besser ein klarer, kühler Kopf, Ruhe und Bedachtsamkeit? „Fieberhaft“ soll vermutlich emsige Betriebsamkeit suggerieren. Wir sollen denken, die Regierung macht sich wirklich Mühe. Gibt doch keinen Dummen auf der Welt, der glaubt, dass die Schnapsidee „Betreuungsgeld“ die Mühe überhaupt lohnt. In diesem kleinen, blöden Wort „fieberhaft“ steckt soviel dummdreiste Desinformation, dass man sich schütteln mag. Also, liebe Tagesschau, wenn schon Verlautbarungsjournalismus, dann aber ordentlich und nicht so doof.

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