„Ga-ga-ga!“ – Früher Aufbruch der Graugänse

In „Der unsichtbare Dritte“ (North by Northwest) von Alfred Hitchcock, spielt Gary Grant den New Yorker Werbefachmann Roger Thornhill, der von Agenten im Kofferraum eines Autos entführt wird. Thornhill glaubt, aus dem Kofferraum eine Gartenparty gehört zu haben, aber wie sich später herausstellt, war das eine Schar schnatternder Gänse gewesen.

Ich werde wach gegen halb fünf Uhr. Es dämmert. Die Nässe der schwülen Nacht trieft noch von den Blättern, da höre ich unten vor dem Haus lautes Reden, und weil ich nicht wüsste, warum unter meinen Fenstern in aller Morgenfrüh sich viele Menschen versammeln und aufgeregt durcheinander reden sollten, denke ich sogleich an Roger Thornhills Irrtum und glaube, da hat sich unter meinen Fenstern eine Gänseschar versammelt und beschnattert „ga-ga-ga“ die nächste Etappe ihres Zugs. Vielleicht sind sie sich nicht einig, ob sie nach Süden oder Norden sollen, müssten jedenfalls längst weg sein, aber Regen und Nebel haben ihren morgendlichen Abflug verzögert. Es ist ihnen schlicht noch nicht hell genug zum Aufbruch.

Da ich nun einmal wach bin, beschließe ich aufzustehen und mir die Gänse anzuschauen, schließlich kriegt man Graugänse selten aus der Nähe zu sehen, sondern meist nur als unordentliche Einserformation am Himmel. Ich gucke also raus, da stehen unter meinen Fenstern nicht etwa langhalsige Entenvögel, sondern gut 20 Leute zwischen 30 und 40 Jahren beiderlei Geschlechts, sommerlich gekleidet wie welche, die sich für eine Reise fein gemacht haben, aber ohne jegliches Gepäck. Nur die Anzahl der Beine stimmt überein mit meiner Gänsevermutung, aber namentlich die Beine der Frauen in Kleidern, Röcken und kurzen Hosen finde ich um einiges ansehnlicher als die von Graugänsen, worin mir freilich jeder Ganter widersprechen würde.

Um einen solchen Ganter, sehr schlank und biegsam, haben sich einige Gänse geschart und schnattern lebhaft. Die Damen sind offenbar von ihm angetan und buhlen um seine Aufmerksamkeit. Er weiß mit großer Geste zu rauchen und gleichzeitig zu sprechen, was Männer eigentlich nicht können, Ganter vielleicht doch? Weiter hinten steht eine größere gemischte Gruppe, und mir wird klar, dass all diese Leute nicht etwa viel zu früh aufgestanden sind und einander fragen, warum sie sich ausgerechnet um diese unchristliche Zeit unter meinen Fenstern haben versammeln sollen. Ihr aufgekratztes Schnattern ist vielmehr ein übernächtiges „Ga-ga-ga“ der Übermüdung, denn das weiß man seit Konrad Lorenz: „Nach müde kommt blöd.“

Ich will mir einen Kaffee machen, und gehe hinüber in die Küche. Und wie ich da wieder aus dem Fenster schaue, ist die Schar einfach weg! Spurlos verflogen der ganze Spuk! Und haben noch nicht mal den Bürgersteig eingekotet. Das dichte Laubwerk der Bäume, aus denen es jetzt wieder vernehmlich trieft und tropft, hindert mich daran, den Himmel abzusuchen nach einem unordentlich geflatterten V.

Dieser Beitrag wurde unter Mein surrealer Alltag abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Kommentare zu „Ga-ga-ga!“ – Früher Aufbruch der Graugänse

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.