Zielloses Radfahren (4) – Leidenstour mit Souplesse

Die Strecke um den Maschsee ist etwa sechs Kilometer lang. Ich habe den Kopf voll, das Herz ist mir schwer. Da hilft es manchmal, sich anzutreiben. Allerdings muss ich zugeben, auf der ersten Runde um den Maschsee wenig gesehen zu haben. Instinktiv bin ich links herum gefahren, wie sich ein Verirrter immer linksrum hält, dem Schlag seines Herzens folgend, weshalb er ungewollt im Kreis läuft. Zunächst wird er sich freuen, Spuren zu finden, denn er mag denken: Ach, hier ist ja schon mal einer gelaufen, dem brauche ich nur zu folgen. Die vermeintlichen Vorläufer werden immer mehr, sooft der Verirrte seine Kreise zieht und glaubt, auf dem richtigen Weg zu sein.

Wenn man sich das Gehirn als ein Netzwerk vorstellt, durch das ein Aufmerksamkeitsfunke saust, den wir unser Ich nennen, dann kann dieser Aufmerksamkeitsfunke leicht in solche Kreise geraten. Er senkt damit die Schwellen zwischen Synapsen und gerät dadurch immer wieder in dieselben gedanklichen Muster. Das Denken fährt quasi eine Karrenspur aus, immer tiefer und tiefer in den Schlamm. Der britische Kreativitätsforscher Edward de Bono nennt diesen Effekt „natürliches Denken“ Dem natürlichen Denken ist nur durch vertrauensvolle Sozialpartnerschaft beizukommen. Nur wenn dem Individuum ein anderes Individuum nahe ist und es mit einer anderen Bewertung der Dinge konfrontiert, kann das Ich aus der tiefen Spur der Gedankenkreise heraus und auch schon mal querfeldein denken, wodurch es neue Spuren anlegt, quasi sein inneres Beurteilungssystem erweitert und differenziert. Um den Mangel des natürlichen Denkens auszugleichen, hat sich der Mensch vergesellschaftet und aus bewährten Denkspuren allgemeine Lebensregeln gemacht, – bevor die Experten kamen und ihn entmündigt haben.

Uff. Anstrengend. Sätze so lang wie einmal rund um den Maschsee. Natürliches, kreisförmiges Denken kann auch durch unerwartete Ereignisse gestört und aufgelöst werden, aber das weiter auszuführen, ist mir grad wirklich zu anstrengend. Ich spüre gewisse Anzeichen von Müdigkeit in den Muskeln, denn indem ich links um den Maschsee fahre, hab ich in der Allee am Südufer den Wind von schräg vorne. Der heftige Wind treibt hektische Wellen ans Ufer, lässt die Alleebäume rauschen und zaust den Radfahrer. Dagegen ist mühsam anzukommen, ohne den runden Tritt zu verlieren. Der runde Tritt ist ein Radfahrermysterium. Manche haben ihn. Die Flamen sagen, so einer fahre soepel oder met soepelheid, was im Französischen souplesse heißt und im Deutschen vielleicht Geschmeidigkeit. Souplesse drückt es eigentlich am besten aus. Etwas Anstrengendes mit Souplesse zu bewältigen, ist kulturelle Verfeinerung und allemal der groben Kraft vorzuziehen.

Den runden Tritt muss ich mir in jedem Frühjahr wieder antrainieren, weil ich wie die meisten eher schwere Gänge treten will. Man könnte sagen, es ist das natürliche Radfahren, eher zu schwere Gänge zu treten. Der runde Tritt ist schwierig zu erlangen. Er muss einem beinahe von anderen beigebracht werden, und wenn mir ein Radfahrer begegnet, der mit Souplesse fährt, dann denke ich, der ist in einem Radsportverein.

Die Allee am Südufer des Maschsees ist bei allen Ausdauersportlern beleibt. Da joggen schlanke Frauen und athletisch-schwitzende Männer. Dazwischen sperren skatende Paare selbstvergessen den Radweg, man zeigt stolz die Tattoos und ist überhaupt ganz und gar körperverliebt. Hier ist Freizeitsport gleichzeitig schaulaufen, und auch Bettina Wulff hat schon am Maschsee entlang ihre Beine hergezeigt.

Nach anderthalb Runden beschließe ich einen Richtungswechsel, wende am Freibad und fahre unter den dichten Büschen und Bäumen des Nordufers zurück. Die schützen vor dem Wind, man spürt ihn kaum. Die Strecke finde ich ohnehin romantischer als die Allee. Schnurgerade Alleen sind langweilig, und ihr weit entfernter Fluchtpunkt lässt die Moral sinken, wenn man zu oft hinguckt. Unsere neue Strecke macht hübsche Windungen, so dass man nicht weit voraussehen kann.

Es kommt der Moment, wenn die Leine sich nah an den Maschsee drängt, so dass man für kurze Zeit glaubt, auf einem Damm zu fahren. Die Ufer der Leine haben einen dichten grünen Pelzkragen aus hohem Gras und wild wuchernden Büschen. Auf der anderen Seite zeigt sich der gezirkelte Maschsee mit seinen Surfern und Seglern. Er ist ja ein künstliches Gewässer und auf dem Reißbrett entstanden. Sein Wasser spiegelt silbrig, während auf dem braunen Wasser der Leine allerlei Kleinzeug mit der Strömung treibt. Pollen bilden einen dichten Film; darin tanzen abgerissene Blätter und Zweige.

Da rollt uns der skatende Tünnes wieder entgegen, der die Ohren verstöpselt hat und mit der Musik Serpentinen fährt. Gelegentlich zeigt er mit großer Geste auf imaginäre Punkte in der Welt, wie es alberne amerikanischer Politiker bei öffentlichen Auftritten machen, wenn sie nicht wissen, wohin mit den Händen. Sie zeigen dann immer auf wen im Publikum, was vielleicht positiv auf die Betroffenen wirkt, die sich endlich einmal von wichtigen Lenkern gesehen fühlen. Normalerweise will der Mensch nicht bezeigt werden, wie ja auch mal die Regel galt, man zeige nicht dem nackten Finger auf angezogene Leute.

Wir kommen glücklich am zeigenden Skater vorbei, umrunden noch einmal den Maschsee, und ab zum Schnellen Graben, wo das meiste Wasser der Leine in die Ihme stürzt, weiter an deren Ufer entlang nach Hause. Vor den Gedankenkreisen habe ich mich radfahrend und schreibend geschützt. Darum wurde die Fahrt so lang. Danke fürs Mitfahren.

Zielloses Radfahren wird fortgesetzt (5)

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