Zielloses Radfahren (3)- Regentour mit Draht und Käfig

Kennst du das? Wenn mit dem plötzlich einsetzenden Regen ein Temperatursturz von gefühlten 10 Grad einhergeht, und man ist nicht passend gekleidet, sogar bald durchnässt und friert erbärmlich? Das ist uns leider widerfahren, weil wir uns zu lange bei Draht Franz Groll aufgehalten haben. Wir müssen auf dem kürzesten Weg nach Hause fahren, und er führt leider wieder quer durch die riesige Schrebergartenkolonie „Schnurzepief“. Zum Wochenende hin wird man in der ganzen Kolonie Altäre sehen, Tische mit Deutschlandfahnen verhängt, auf denen die Flachbildschirme aufgestellt sind – für die Fußballfans aus der Nachbarschaft zum Nearest Neighbour Viewing (NNV). Der Fernseher steht selbstverständlich unter dem Terrassenüberdach, falls das Wetter wird wie heute. Unter dem Tisch, im Inneren des Altars, Bierkästen und -fässchen.

Eine Apotheke auf der Limmerstraße hat ihr Schaufenster auch mit einer Deutschlandfahne dekoriert. Sie liegt quer am Boden, und auf ihr stehen drei riesige Schachteln Kopfschmerztabletten. Wenn das mal kein Omen ist. Was, wenn Schland bei der Fußballeuropameisterschaft schon in der Gruppenphase rausfliegt und bedröppelt nach Hause reisen muss? Dann reden sie sich die Köpfe heiß in den Schrebergartenkolonien und an den Theken, was Joachim Löw alles falsch gemacht habe. In diesem Fall hätte der Apotheker richtig gelegen mit seiner Kopfschmerztablettendekoration auf Schwarz-Rot-Gold.

Der lange Weg durch die Schrebergärten ist bereits aufgeweicht, und wo kein Split liegt, stehen kleine Pützen in den Lehmfurchen. Beim Durchfahren zischt es, der Lehm schmatzt an den Reifen, glitscht zur Seite, – da braucht es gute Steuerkunst und einen aufmerksamen Blick voraus auf die Wegdecke, wenn man sich nicht hinlegen will. Das Gute am Regen ist, dass er die Luft mit Sauerstoff anreichert, weshalb man bei Regen mehr Kraft zur Verfügung hat. Ich kann jetzt viel schneller fahren als auf dem Hinweg, was aber die Lehmfurchen besonders tückisch macht. Sich warm zu strampeln ist ohnehin das beste Mittel gegen plötzlich einbrechendes Unwetter. Manche stellen sich tropfnass unter und frieren gotterbärmlich, und wenn der Regen so bald nicht aufhört, müssen sie irgendwann trotzdem wieder los und kommen folglich erst spät ins Warme.

Ob das Strampeln ein Hilfsmittel ist gegen inneres Unwetter? Wenn es plötzlich in dir stürmt und hagelt, begleitet von einem Temperatursturz? Wenn dir die Kälte das Herz abzuschnüren droht und du ganz taub wirst für alles um dich herum? Gewiss hilft es dann, etwas mit den Füßen oder Händen zu tun und den Kopf zum Denken zu benutzen. Das innere Unwetter veranstaltet man ja selbst, und je schlimmer es ist, desto mehr Kraft verleiht man ihm. Es ist zumindest erhebend zu spüren, wie viel Kraft in dir steckt. Wehe dem, der kein inneres Unwetter mehr zustande bringt, sondern höchstens einen lauen Regen, dem die Kinder sogar spotten, indem sie darin herumtanzen. Lieber einem ordentlichen Unwetter trotzen als sich in der inneren Lauheit zu suhlen.

Wie schön der Regen auf die schwarznasse Asphaltdecke prasselt und kleine Bläschen macht. Wie seltsam die Farben aus der Landschaft gewaschen werden, bis nur noch Grün, Grau und glänzendes Asphaltschwarz bleiben, darauf die tanzenden Lichter der Autos, die lustig mit den Scheibenwischern winken. Innere wie äußere Unwetter verheißen eins: schlechte Sicht. Umso vorsichtiger muss man fahren.

Zielloses Radfahren wird fortgesetzt (4)

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