Zielloses Radfahren (1) – Aufbruch ins Ziellose

An seltenen Tagen und immer gänzlich unerwartet erfasst mich das Radfahren und lässt mich ziellos umher schweifen. Es beginnt damit, dass ich mit dem Fahrrad aufbreche, um etwas in meiner Nähe zu erledigen. Danach fahre ich aber nicht direkt nach Hause, sondern suche einen Umweg, um mir die langweilige Rückfahrt auf immer denselbenen Wegen zu ersparen. Plötzlich tut sich da eine neue Straße auf, die ich noch nie befahren habe. Da biege ich ein – und Holla, da kommt schon wieder ein mir unbekannter Weg und wieder einer. Er führt aus der Stadt hinaus.

Habe ich bis dahin selbst gelenkt, ab dann gewinnt das Straßennetz die Herrschaft über mich. Ich weiß nicht, wohin mein Weg mich führt, muss ab jetzt der inneren Logik des Straßenetzes vertrauen, nach der ich nur dreimal radikal nach links abbiegen muss, um wieder in vertraute Bereiche zu kommen. Auch in dieser Phase ist mein Radfahren ziellos, denn es führt mich in neue Lebensbereiche ein, von denen ich vorher nichts wusste, die ich also nicht gezielt besucht hatte zuvor. Es wäre ja auch absurd, würde man etwa den Müllcontainer einer Schrebergartenanlage zum Ziel haben. Von zu Hause aufbrechen und sagen: „Mal sehen, was der Müllcontainer in der weiträumigen Schrebergartenanlage „Schnurzepief“ macht.“

Dabei: Die Schrebergartenkolonie „Schnurzepief“ ist riesengroß. Der Fahrradweg führt mitten hindurch, schnurgeradeaus und scheinbar endlos. Du tauchst ein in einen Kosmos von Schrebergärten. Hier Schrebergärten, da Schrebergärten, alle auf ihre Weise individuell, alle wie man sie sattsam schon gesehen hat. „Was ist der übergeordnete Eindruck?“, frage ich mich, derweil ich mich beeile, tüchtig Fahrt mache, um der schier unfassbar großen Schrebergartenanlage zu trotzen, diesem Universum an gehissten Flaggen wehend über baumarktgepflegten Hütten, und Terrassen, und Gartenmöbeln mit Sitzauflagen von Lidl und Blumenrabatten und tönernen Laubfröschen und Häuschen und Grill und bunten Kinderschaukeln und Hauswiesen und Obstbäumen und Gemüse in Reih und Glied.

So sieht es aus, wenn der gewöhnliche Deutsche es sich gemütlich macht. Da kann er mit kurzen Hosen und gebräunten Beinen durch Kleinkleckerdorf latschen, wie ein Tourist, der sich gesagt hat: „Heute besuche ich mal die Leute in Kleinkleckersdorf, meine Nachbarn, die ich alle gut kenne. Mal hören, was die sagen.“ Es ist Deutsch-Entenhausen, leben in Entenhausen, diese stille Sehnsucht des gealterten Comicfreundes. Wie Frauen darüber denken, vermag ich nicht zu sagen, aber alle eint der Wunsch, in einer einfach durchschaubaren, geselligen Welt zu leben, in der jeder seinen Platz hat, und das hier, was wir gerade quer durcheilen, auf einem ausgefahrenen Fahrradweg, zuweilen lehmig gefurcht, zuweilen eine Piste aus gewalztem Split, der aufstiebt und seitlich unter den Rädern wegspritzt; Hecken säumen den Weg, links und rechts Hecken, nur selten freier Blick tief in den Kosmos, und ständig musst du auf die Wegdecke aufpassen, das hier mag von außen wie Hedonismus wirken, im Inneren aber hat jeder diesen Wunsch, freilich auf seine Weise und nicht immer getreu der Schrebergartenordnung.

Uns alle eint der Wunsch des Hauswarts, die Welt wäre einfach und wir könnten unsere eigene Schrebergarten-Ordnung erlassen, die vom Leben und den Akteuren ringsum peinlichst genau eingehalten wird. – In diesem Augenblick gibt der elend lange Heckenweg uns frei, ein Müllcontainer der weiträumigen Schrebergartenanlage „Schnurzepief“ wischt vorbei, und wir biegen nach links in eine breite Straße ein.

Zielloses Radfahren wird fortgesetzt (2)

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