Erlauben Sie sich getrost Neues Denken

„Oh ja! Heutzutage ist Virtuelles und Reales soweit zusammen verflochten, dass man kaum mehr dazwischen unterscheiden kann. Und es ist auch gut so. :-)“,
schreibt Blogfreund Merzmensch in einem Kommentar.

So weit hatte ich bisher noch nicht gedacht. Hören und lesen wir doch immer die Ansicht, man dürfe Virtuelles und Reales nicht vermischen. Und erst recht dürften wir das Internet nicht als gleichwertige Sphäre des Lebens ansehen. Wurden die beiden Sphären, in denen wir uns seit dem Internet hin und her bewegen, bislang nicht immer gegeneinander ausgespielt? Ist es nicht an der Zeit, dem Internetzeitalter mit einem neuen Denken zu begegnen, einem Denken, das nicht mehr in den Kategorien der Buchkultur verhaftet ist?

Unsere Gesellschaft bewegt sich nur langsam dahin. „Alles Große ist schwer zu bewegen“, sagt Gracian. Die von der Buchkultur geprägte Gesellschaft kann mit der rasenden Entwicklung der Internetkultur nicht Schritt halten. Doch wir Akteure im Internet stecken mittendrin und schieben die Entwicklung weiter an, gleichwie gering der eigene Anteil ist oder empfunden wird.

Wir stehen gemeinhin mit einem Bein noch immer in der Buchkultur und tasten mit dem anderen in die Zweidimensionalität des Internets. Gilt es nicht endlich einen neuen Stand zu finden, eine Sicherheit gegenüber dem Internet? Es ist nämlich ganz und gar nicht zweidimensional, obwohl es uns nur eine Fläche darbietet. Seine Tiefendimension erhält es durch die soziale Vernetzung. Durch die Netze pulst eine Menge Energie, die ich hier einmal Soziale Energie nennen möchte. Sie entsteht aus der gegenseitigen Wahrnehmung und, wenn man ein Gepflegtes Netz betrachtet, aus der gegenseitigen Achtung und Wertschätzung. Das virtuelle Bein, von dem wir glauben, es taste haltlos ins Unwägbare, es ragt in die Zimmer und Wohnstuben der Netzteilnehmer. Das wirkt zunächst komischer als es ist, wenn man sich so ein aus dem Bildschirm fuchtelndes Bein vorstellt. Tatsächlich bieten aber die anderen Netzteilnehmer Halt.

Wer also dem Internet mit einem neuen Denken und einer neuen Zuversicht begegnen will, der achte nur darauf, sich in einem gepflegten Netz zu bewegen. Damit ein Netz gepflegt ist, darf es nicht zu groß sein, sonst fließt die Soziale Energie nur schwach, denn sie wird auf zu viele Netzteilnehmer verteilt. Aber auch gepflegte Netze sind dynamisch, verändern sich rasch, können mit der Zeit verlottern, müssen also regelmäßig aktiviert und neu gedacht werden, sonst verlieren die einzelnen Netzteilnehmer den Anschluss. Doch erst richtig festen Halt bietet ein gepflegtes Netz, deren Teilnehmer sich real begegnen. Das ist mir inzwischen gut 20 mal gelungen. Mit Blognachbar Shhhhh bin ich auch real befreundet. Unsere Gespräche sind immer inspirierend, und oft schildern wir in unseren Blogs gemeinsame Erfahrungen, je aus unterschiedlicher Perspektive.

Letztens besuchte ich meine liebe Blogfreundin Eugene Faust. Das Bild, das ich von ihr durch den schon langen virtuellen Kontakt hatte, bekam endlich Tiefe. Ich ging in ihrer Wohnung umher, saß mit Eugene Faust zum Kaffee am Tisch und später am Arbeitstisch, und sie zeigte mir, wie sie ihre gekonnten Fotomontagen und Gif-Animationen mit Powerpoint macht. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, Fotomontagen mit Powerpoint zu machen. Daher war ich voller Bewunderung dessen, was Eugene Faust mir demonstrierte. Dann sah ich mein Blog, das Teppichhaus, auf ihrem Bildschirm, im Kontext ihrer Wohnung. Ich war quasi von meinem eigenen Knotenpunkt im Netz zu ihrem Knotenpunkt gereist, und sah das Bild des Teppichhauses beinah mit ihren Augen, eine verrückte Erfahrung. Sie erfordert und erlaubt neues Denken.

Genau betrachtet, erlaubt der Schritt ins Internet einen Schritt über den eigenen Horizont hinaus, eine Erweiterung unseres Gesichtskreises, indem er wieder zurück in das fassbare Leben führt, uns einen Kontakt mit faszinierenden Menschen ermöglicht, um die uns ein Mensch der frühen Buchkultur beneidet hätte. Ich nenne mich nicht einfach nur so im Internet Trithemius. Johannes Trithemius (1462-1516) war der gelehrte Abt von Sponheim. Sein Name ist das latinisierte Trittenheim. Trittenheim stand im Kontakt mit den geistigen Größen seiner Zeit, webte also an einem Netzwerk der Geisteskultur. Er hat die Beschwerlichkeit von Reisen beklagt, die für den Kontakt nötig waren. Genervt von den vielen gelehrten Besuchern im Kloster, steckten die Mönche Trittenheims Bibliothek in Brand. Die Möglichkeiten der Fernkommunikation waren noch gering. Zu Trittenheims Zeiten floss die Kommunikation am schnellsten durch das Netzwerk der Flüsse, aber ihr natürlicher Verlauf richtete sich nicht nach den Wünschen der Kommunizierenden. Auch der Buchdruck hat sich zuerst entlang der Flüsse ausgebreitet.

Irgendwo las ich einmal vom Jammer des Trithemius über die schlechten Netzwerkverbindungen, und ich habe ihn bedauert. Daher nenne ich mich ihm zu Ehren Trithemius, weil mir just das zur Verfügung steht, was ihm verwehrt war. Und ich behaupte: Wer im Internet in gepflegten Netzen unterwegs ist, der kann es wagen, radikal anders zu denken. Wir haben mit dem Internet die Herrschaft über den eigenen Kopf zurück gewonnen. Und ein eigener Kopf braucht keine Denkhemmungen wie sie von allen Seiten ins Feld geführt werden, wenn über das Internet und seine Erscheinungen gejammert und gescholten wird. Wir bilden Netzwerke von vertrauenswürdigen Menschen und haben einen Draht entwickelt, das Falsche und Kriminelle zu erkennen und zu meiden. Denn zwischen uns fließen nicht nur Kommunikation und Soziale Energie, sondern auch Nachrichten, nach denen man sich im Wortsinne richten kann, weil kein materielles Interesse damit verknüpft ist. Wir bilden einander, sind Lehrer und Schüler zugleich, wir schreiben und gestalten nach bestem Können und streben immer nach Verbesserung. Und all das tun wir aus eigenem Antrieb, völlig selbstbestimmmt. Das unterscheidet die Bildung im Internet von der Un- und Halbbildung, die in der Einkanalmediengesellschaft der Buchkultur vorherrscht. Davon profitieren wir und deshalb können wir uns getrost ein Neues Denken erlauben.

Dankeschön an den klugen Merzmensch für diesen wertvollen Anstoß zum
Neuen Denken.

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