Einiges über Buchstabenmagie

Als der Skalde Egil, ein berühmter isländischer Heldendichter, einst auf den Hof des Bauern Thorfinn kam, fand er dessen schöne Tochter Helga todkrank auf der Querbank liegen. Sie konnte keine Nacht mehr schlafen und war wie wahnsinnig. Egil fragte Thorfinn, ob irgendwelche Mittel angewandt worden seien, und Thorfinn sagte, ein Bauernsohn aus der Nachbarschaft habe heilende Runen geritzt. Danach habe sich Helgas Zustand aber noch verschlimmert.

Nachdem Egil gegessen hatte, untersuchte er Helgas Krankenlager und fand ein Fischbein, auf dem Runen geritzt waren. Er las die Runen, schabte sie ab und ließ das Abgeschabte sofort ins Feuer fallen. Dann verbrannte er den Fischknochen und ließ alles an die Luft tragen, was mit den Runen in Berührung gekommen war. Darauf erklärte er, nur der wahre Runenkundige solle sich am Ritzen versuchen; der verliebte Bauer habe falsche Runen geritzt. Sein Schreibfehler habe dem Mädchen Schaden gebracht. Egil ritzte die richtigen Runen und legte sie unter Helgas Kopfkissen. Da glaubte sie, aus einem Schlaf zu erwachen, und sie fühlte sich wieder gesund.

Die Kraft des Textes wird hier seiner materiellen Erscheinungsform zugeschrieben. Die Zauberkraft steckt im Material der Buchstaben. Man muss die Buchstaben vernichten, um ihre schädliche Wirkung zu lösen.

Das Abschaben von Schrift ist demnach eine alte magische Praxis. Eine anderes Beispiel gibt der von den Nationalsozialisten geächtete Runenforscher Helmut Arntz: „Runen, auf Holz geritzt, dann abgeschabt, die Späne mit Bier gemischt und solcher Trank getrunken: damit nimmt der Held die kultische Kraft der Runen in sich auf.“ Im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens beschreibt Bächtold-Stäubli Vergleichbares bei der Verwendung der Alphabetschrift: „Die badische Mutter verhackt die Buchstaben des großen und kleinen Alphabets ganz fein mit einem Karfreitagsei und gibt es vor dem ersten Schulgang (beim Beginn des neuen Schuljahrs an Ostern) dem Knaben zu essen, damit er lernkräftig werde.“

Palimpsest (griech.) Das ist: wieder (palin) abgeschabt (psestos)
Dieses magische Denken wurde bereits in den Anfängen der Christianisierung auf die Alphabetschrift übertragen. Angeblich aus Sparsamkeit oder Materialnot schabten die christlichen Mönche in den Skriptorien des Mittelalters die überlieferten heidnischen Texte vom Pergament, um es neu zu beschriften. Dass aber allein ökonomische Zwänge wirksam waren, erscheint sehr fragwürdig. Wenn die frühen christlichen Mönche die heidnischen Texte abschabten, so wurden auch sie auf diese Weise unschädlich gemacht.

Das erneute Beschreiben des abgeschabten Pergaments entspringt dem Überwindungsgedanken. Wie man die Heidentempel niederlegte und Kirchen oder wenigstens Kapellen darauf errichtete, wie man auf jedem Kultplatz ein Kreuz oder ein Bilderstöckchen aufstellte, so wurde das heidnische Denken durch die Kraft der überschriebenen heiligen Texte endgültig gebannt.

Volksglaube und Zauberbücher

Seit dem Mittelalter kursieren in Europa Zauberbücher. Das 7. Buch Mosis ist eines davon. Mit seiner Hilfe kann man angeblich Magie betreiben. Wie Zauberbücher in die Welt gekommen sind, erzählt eine alte Frau aus der Westeifel in dem Dokumentarfilm zur Oral History „Ein blindes Pferd darf man nicht belügen“ von Dietrich Schubert:

„Da hat mal ein Papst, früher, als die Christenverfolgung war, Bücher ausgegeben, damit konnten die sich unsichtbar machen. Haben Sie davon schon mal was gehört? Ja, das gab’s! Und als die Christenverfolgung vorbei war, da hat der Papst die wieder eingesammelt. Aber da sind nicht alle wieder zurückgekommen.“

Wenn die Zauberkraft im Material der Buchstaben steckt, kann man ein solches Buch nicht so einfach vervielfältigen. Denn eine Abschrift hat keine Zauberkraft. Zauberbücher unterliegen daher einem Abschreibverbot, denn keine Abschrift ist wie das Original, jede Abschrift ist selbst ein Original. Demnach kann ihr nicht die einmalige Kraft der Vorlage innewohnen. Diese Vorstellung erklärt, warum ein abgeschriebens oder gedrucktes Buch zunächst überhaupt keine Zauberkraft besitzt. Es muss erst durch eine rituelle Handlung aufgeladen werden.

Wie man ein abgeschriebenes oder nachgedrucktes 7. Buch Mosis mit magischer Kraft auflädt, erzählt im selben Film ein alter Bauer. Es müsse ein Priester die Messe darüber lesen. Dazu schmuggelt man es ihm unter das Altartuch. „Deshalb muss der Pastor vor jeder Messe mit den Händen, ich weiß nicht wie oft, über das Altartuch streichen, damit da kein 7. Buch Mosis drunterliegt.“

Buchstabenmagie in unserer Zeit
Ein alter Wochenschaufilm von 1945 zeigt den Andruck der ersten Nummer der Süddeutschen Zeitung. Man sieht einen amerikanischen Presseoffizier, wie er die Blei-Stereotypien (die Druckplatten) von Hitlers „Mein Kampf“ in den Schmelztiegel einer Linotype-Setzmaschine wirft, damit daraus die ersten Druckplatten der Süddeutschen Zeitung gegossen werden können. Das war eine eindeutig rituelle Handlung, egal ob sich der Presseoffizier dessen bewusst war oder nicht.

Vermeintlicher Anschlag auf die deutsche Sprache
In den Diskussionen um die Orthographiereform konnte und kann man immer wieder die Behauptung hören, dass die deutsche Sprache Schaden nehme, wenn man ihre Orthographie verändert. Diese Behauptung wurzelt im selben magischen Denken. Die wissenschaftlich unumstrittene Erkenntnis, dass die Schreibweise eines Wortes beliebig ist und nur auf Vereinbarung beruht, wird durch Reste des magischen Denkens bestritten.

Eine philosophische Entsprechung des Problems
findet man im Universalienstreit.
Bildquelle Runen auf Holz: Der Spiegel 1998
Siehe auch: Alphabetmystik
Erstveröffentlichung dieses Textes 11/2006 im Teppichhaus 2.0
Überarbeitete und erweiterte Fassung

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