Wer das liest, kann lesen! – Vom Lesezwang

Wer ein solches Blatt aus dubioser Quelle in die Hände gedrückt bekommt, fühlt sich nicht unbedingt gezwungen, es zu lesen. In der Buchdruckersprache heißen diese Erscheinungen „Bleiwüste. Man vermisst bei solchen Texten zwischendurch einen geistigen Ruheplatz, wo man sich erschöpft von der bereits durchwanderten Wüste niederlassen kann, um den Schweiß von der Stirn zu wischen. Verständig zu lesen, ist anstrengend, erfordert starke Konzentration, ein beständiges Mitdenken und Abwägen. Weil das Gehirn ein großer Energieverbraucher ist, andererseits aber stets über die Sicherung der Ressourcen wacht, fühlt man sich durch Bleiwüsten eher abgeschreckt. Unwillkürliches Lesen findet kaum statt, denn diese Botschaft ist durch zuviele Buchstaben verdünnt.

Anders bei Plakaten oder großen Schriftgraffiti. Die springen dem Vorbeikommenden ins Auge und rufen ihm quasi ungefragt ihre Botschaften zu. „Wer das liest, kann lesen!“ – das scheint eine banale Feststellung zu sein, aber in der Tat könnte jemand vorbeikommen und die Zeichen nicht zu deuten wissen.

Im Jahr 2011 lag die Zahl der Analphabeten in Deutschland bei zwei Millionen. Wenn am Tag hundert Leute den Fahrradweg lang rollen, sind vier darunter, die diese rückbezügliche Botschaft nicht lesen können. Kaum vorstellbar, wie solche Leute durchs Leben kommen, welche Anstrengungen sie unternehmen müssen, am gesellschaftlichen Leben auch nur marginal teilzunehmen. Es gibt ja neben den physiologischen zwanghaften Leseprozessen auch einen gesellschaftlichen Zwang zu lesen.



Sterben müssen
Analphabeten irgendwann trotzdem, auch wenn sie dieses Graffito nicht lesen können. Ich musste dazu zum Obelisken auf dem Glockenberg im Hinüberschen Garten steigen. Aber ein gesunder Mensch überlebt das, auch wenn er die Sauerstoffflasche vergessen hat. „Jeder, der das liest, stirbt“, spielt mit alten magischen Ängsten vor Fluchformeln. Der Lesezwang, dem hier jeder unterliegt, drückt quasi das Ausweglose des Menschseins aus und gewinnt seine Eindringlichkeit durch die Zeitform Gegenwart, die hier die nahe Zukunft anzeigt, den besonderen Ort, den Obelisken als Beschreibstoff sowie die der Drohung entsprechende hässliche Gestaltung. Eigentlich hätte am Fuße des Obelisken der Sprayer liegen müssen, glücklich verröchelt, mit der Spraydose in der Hand, denn er war der erste, der seine Fluchformel gelesen hat. Aber man hatte ihn wohl schon abgeräumt.

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Alphabetisierung und Schriftkultur

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