Papier, Stift und Muße – über die Kulturtechnik Zeichnen

Wenn die Grundbedürfnisse befriedigt sind und die tägliche Arbeit getan ist, hat der Mensch manchmal ein bisschen Zeit übrig. Man nennt es Muße. Was tun damit?

Manche lackieren ihre Fußnägel oder zwirbeln ihren Schnauzbart. Solche Tätigkeiten haben etwas mit einer erwünschten Außenwirkung zu tun, sind also nicht völlig zweck- und wertfrei. Wer sich jedoch hinsetzt und aus purer Lust am Tun ein wenig doodelt, betritt das große Land der künstlerischen Ästhetik, denn er beginnt sich Fragen zu stellen nach einer angemessenen Form seiner Experimente.

Im Reich der Ästhetik herrscht Anarchie. Natürlich hat der Mensch auch hier Gesetze aufgestellt, doch viele sind weitgehend unbekannt oder gelten nur unter bestimmten Bedingungen. Wer sich nicht auskennt, tut gut daran, alle fremden Regeln zu ignorieren; sonst könnte er gleich nach Zahlen malen. Zu hohe Ansprüche an die eigenen Fähigkeiten blockieren nur. Alle Fertigkeiten wachsen mit dem Tun. Man darf an ein zartes Pflänzchen keine Messlatte anlegen und dann enttäuscht an ihm zerren. Es muss gelten dürfen, wie es ist. Auch sollte man mit den ersten Ergebnissen einer schöpferischen Arbeit nicht an die Öffentlichkeit gehen, denn dann droht die Kritik der unkundigen Sachkundigen, was rasch die Freude verdirbt. Selbst große Werke machen Phasen durch, in denen sie hässlich und unbedeutend erscheinen, so dass es ein Fehler ist, sie vorzeitig zu entblößen.

Der verstorbene Bruder eines Freundes war studierter Architekt, ohne sein Fach je ausgeübt zu haben. Er hat mehrere tausend Skizzenblöcke mit Bleistiftzeichnungen hinterlassen. Sie zeigen historische Hausfassaden, Rathäuser, Schlösser, Kirchen und Straßenzüge und sind Dokumente von ungezählten Reisen und Wanderungen. Kaum jemand hatte die Zeichnungen je gesehen. Der Mann hatte sie nur für sich angefertigt, aus purer Lust an der zeichnerischen Aneignung von Architektur. Was tun mit einem solchen Nachlass? Mein Freund hat die meisten Blöcke weggeworfen, zum Entsetzen aller, denen er davon erzählt. Er selbst ist Künstler, doch sein zeichnerisches Werk ist freier, nicht vom Abbildhaften und seinen perspektivischen Regeln bestimmt. Trotzdem, wie konnte er so mit den Zeichnungen seines Bruders verfahren? Gab es keine bessere Möglichkeit als sie wegzuwerfen?

Ein Museum hätte sie nicht genommen, denn sie archivieren das Werk eines unbekannten Meisters nicht. Wozu also aufheben, wenn man nicht wohin weiß mit seinen eigenen Arbeiten? Manfred Rommel, der ehemalige Oberbürgermeister von Stuttgart, lehnte einmal Geburtstagsgeschenke mit den Worten ab: „Meine Frau duldet keine weitere Einbringung von Gegenständen in unseren gemeinsamen Haushalt.“ So ähnlich erging es meinem Freund.

Die meisten der Skizzenblöcke sind weg. Doch in der Küche seines Bruders hatte mein Freund ein hölzernes Frühstücksbrettchen gefunden, auf dem sein Bruder offenbar Jahrzehnte mit dem Messer herumgesäbelt hatte, so dass das Brettchen in seiner Mitte ein langgezogenes Loch aufwies. Mit diesem Brettchen hatte mein Freund eine Assemblage gestaltet. Sie war Bestandteil seiner Ausstellung und hing über einem weißgedeckten Tisch, auf dem bei der Ausstellungseröffnung die Gläser und Getränke standen. Dadurch hatte die Arbeit viel von einem Altarbild. Mit den Spuren, die ein Messer in einem Frühstücksbrettchen hinterließ, war das lange Leben eines Mannes beeindruckend gewürdigt. Das Altarbild vereinte auf heitere Weise das Leben zweier Brüder, die hinsichtlich ihrer Kunstauffassung sehr unterschiedlich waren. Gemeinsam war ihnen die Hinwendung zur Ästhetik, ohne sich um öffentlichen Beifall zu kümmern. Mein Freund musste lange gedrängt werden, überhaupt eine Ausstellung zu bestücken. Das Werk seines Bruders war noch hermetischer. Er hat sich nie um öffentlichen Beifall bemüht. Und so ist es vielleicht nicht die schlechteste Lösung gewesen, seine Zeichnungen dem Vergessen zu übergeben. Denn eigentlich gehörten sie nur ihm.

Wenn der Mensch sich aus eigenem Antrieb ins Reich der Ästhetik begibt, dann erweist er sich als kulturelles Wesen. Das macht ihn nicht besser oder schlechter, kann sein Leben jedoch ungemein bereichern. Erste Schritte sind ganz einfach. Man braucht Papier, einen Bleistift, Unbefangenheit und Muße. Der Wiener Musiker Martin Kratochwil, der oft schon für Teppichhaus-Aktionen die Musik komponiert und eingespielt hat, hat sich jetzt dem Zeichnen zugewandt. In seinem Blog Café Kurzweil ist gerade ein Video zu sehen, in dem er seine expressive Arbeitsweise dokumentiert. Man kann sich viel von ihm abschauen.

„i do not follow a plan, when i´m painting. nevertheless, everytime i start, those animal-like creatures are emerging. they seem to form their shapes by themself and often it´s surprising for me to watch them growing, getting results, i did not aim at consciously. however, painting is a magic process, with a childish way of experimenting and trying out, just letting the phantasy flow, fading out rational control.“ (Martin Kratochwil)


Zeichne mal wieder …

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12 Kommentare zu Papier, Stift und Muße – über die Kulturtechnik Zeichnen

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