Wenn in Hannover der Hahn kräht, gibt’s Eier

Dem Lübecker Buchdrucker Johann Ballhorn (1550-1604) wird nachgesagt, er habe die ihm anvertrauten Drucksachen gerne verschlimmbessert. Nach ihm wird das Verschlimmbessern verballhornen genannt. So soll er unter anderem in einer Schulfibel dem Hahn ein Ei untergelegt haben.

An Johann Ballhorn muss ich immer donnerstags denken. Irgendwann am Morgen höre ich nämlich einen Hahn krähen. Er kommt mit einem kleinen Lieferwagen daher und kräht aus einem auf dem Dach des Führerhauses angebrachten Lautsprecher. Ich habe den Lieferwagen bislang nur von oben gesehen, denn als ich anfangs in Hannover wohnte, bin ich mehrmals ans Fenster getreten und habe nach dem Hahn Ausschau gehalten. Gewährsleute berichteten mir aber, der stolze Hahn säße gar nicht am Steuer, sondern ein Mann. Der biete Eier zum Verkauf.

Warum er keine Hühner gackern lässt, kann ich mir erklären. So ein Hahn hat ja meistens nichts zu tun, wogegen die Hühner den ganzen Tag picken und Eier legen müssen. Da bleibt keine Zeit für kleine Ausflüge mit dem Lieferwagen. Der Werbewirksamkeit des Krähens tut das vermutlich keinen Abbruch. Es vermittelt die Illusion eines Hühnerhofes mit scharrenden Hühnern und einem herumstolzierenden Hahn. Mit diesem verballhornten Weltbild schmeckt das Frühstücksei um einiges besser.

In meiner Kindheit lebten Hühner noch tatsächlich auf Bauernhöfen, scharrten im Hof und bauten sich irgendwo in einer dunklen Scheunenecke im Heu ein Nest. Wollte man Eier, musste man die Nester suchen und die Hühner hochscheuchen. Es ist erstaunlich, dass derlei Hühnerhofromantik sich reduzieren lässt auf die Tonkonserve eines Hahnenrufs aus einem Lautsprecher. Aber vermutlich wissen heutige Stadtbewohner nicht einmal, dass der Hahn keine Eier legt, und wie es tatsächlich zugeht auf einer Hühnerfarm, wollen sie erst gar nicht wissen, weil ihnen dann der Appetit auf Eier und Hähnchen vergehen würde.

So können sie mit gutem Gewissen verächtlich auf die armen Irren gucken, die Eier und Geflügelteile beim Discounter kaufen müssen und nicht beim Erzeuger höchstselbst an einem weiß-grünen Lieferwagen, aus dem seit Jahren immer derselbe Hahn kräht. Der ist aber leider auch schon tot und verzehrt. Seine Füße und sein Hals haben immerhin noch eine weite Reise gemacht, denn alles, was man hier nicht essen will vom Hähnchen, wird nach Afrika verkauft. So werden die neuerdings gefundenen multiresistenten Keime auf Geflügelfleisch gleich mit exportiert. Gut so, die in Afrika haben ja nichts.

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