Aushängebogen – Bitte Fehler aufspießen

Die Ahle ist eines der ältesten Werkzeuge des Menschen. Mit ihr lassen sich Löcher in Materialien stechen, weshalb die Ahle wahrscheinlich unersetzliche Hilfe beim Zusammennähen von Tierhäuten war. Warum Studenten der Universität Paris zu Beginn des Buchdrucks immer noch Ahlen mit sich führten, ist kaum zu klären. Es verhält sich dabei ähnlich wie bei der Frage, was zuerst da war, das Huhn oder das Ei, also hatten Pariser Studenten immer schon Ahlen bei sich, um sich etwa gegenseitig zu pieksen, oder sind sie durch ein Verfahren der frühen Drucker rund um die Universität dazu veranlasst worden, Ahlen mit sich zu führen?

Die Drucker nämlich wurden beständig vom Druckfehlerteufel geplagt, einem Quälgeist, der zusammen mit dem Buchdruck erst entstanden war. In handschriftlichen Bücher des späten Mittelalters dagegen sind Fehler geduldet. Eine kalligraphische Handschrift ist schwer zu korrigieren, weshalb die Idee von orthographischer oder inhaltlicher Richtigkeit gar nicht aufkommt. Wer ein Buch abschrieb, verfasste ein neues Original, er vervielfältigte also das Buch nicht. Und eine nachträgliche Kontrolle war schwer durchzuführen, wenn die Originalvorlage selten oder unzugänglich war. Es gibt aus dieser Zeit auch viele absichtliche Fälschungen.

Im Philobiblon, dem berühmten Buch von der Bücherliebe, des Richard de Bury klagen die Bücher die Zustände in den Skriptorien und die Unsitten der Kopisten an, so dass der Eindruck von wenig Sorgfalt entsteht. De Bury, der Bischof von Durham, führt allerlei Barbareien auf, aber von Fehlern spricht er nicht, wenn er Ehrfurcht vor den Büchern anmahnt. Die Idee des Fehlers im heutigen Sinne, wo sogar ein Schreibfehler im Bewerbungsschreiben zum Scheitern der Bewerbung führt, eine solche Unerbittlichkeit gegenüber dem Schreibfehler kannte man im Mittelalter noch nicht. Es hat sogar analphabetische Kopisten gegeben, die den gesamten Text der Bücher abmalten, ohne Sinn und Verstand, wodurch sich viele Schreibfehler erklären. Und wenn eine Buchseite gar komplett in Holz geschnitten worden war wie bei den mittelalterlichen Blockbüchern, blieb eine Korrektur ohnehin aus.

Erst der Buchdrucker entwickelte den handwerklichen Ehrgeiz nach Korrektheit der Schriften. Denn er hatte die Möglichkeit vor Augen, einen Fehler in der fertigen Buchseite spurlos zu korrigieren, indem er die fraglichen Buchstaben einfach austauschte, möglichst vor dem Druck der ersten Auflage. Deshalb wurde von allen Drucksachen zuerst ein Korrekturabzug gemacht. Der wurde von den Pariser Druckern des Universitätsviertels nach draußen gehängt, und vorbeikommende Studenten lasen Korrektur. Wer einen Fehler entdeckte, spießte ihn im Aushängebogen mit der Ahle auf.

Beim Schreiben im Internet hat der Druckfehlerteufel seine Macht fast verloren. Dieser Text hier wurde nach der Veröffentlichung an vielen Stellen korrigiert. Eigene Fehler sieht man schlecht. Man muss sich den Text entfremden, um die Fehler zu erkennen. Ein Linguistikprofessor der Leibnizuniversität erzählte mir, dass er alle mit dem Computer geschriebenen Texte zuerst in eine andere Schrifttype transformiert, um diesen Entfremdungseffekt zu haben. Ich verschaffe mir zusätzlich soziale Spannung, indem ich den Text im Teppichhaus veröffentliche. Hier kann ich ihn fast mit den fremden Augen eines für mich imaginären Lesers sehen. Das hilft mir ungemein bei der Fehlerjagd. Manchmal lese ich noch stundenlang Korrektur, tilge Rechtschreib-, Grammatik- und Stilfehler, stelle Sätze um, kürze etwas heraus, verdichte eine Aussage oder füge nachträglich eine bessere Wendung hinzu, die mir beispielsweise auf dem Weg in die Küche eingefallen ist. Oft haben die Korrekturen typographische Gründe, wenn mir etwa ein Zeilenfall nicht gefällt.

Alle Texte im Teppichhauslager sind anders als in ihrer ersten Fassung. Eine letzte Fassung gibt es nicht einmal, wenn ich die Radieschen von unten begucke, weil die Texte jeder verändern kann, der den Schlüssel zum Teppichhaus besitzt. Es gibt also in der digitalen Publikation kein Original, sondern nur dynamische Kopien. Wer ein Bildschirmprint macht oder einen Text herunterlädt und speichert, wer ihn ausdruckt – erhält eine Kopie, die sich vom späteren Zustand des Ausgangstextes unterscheidet. In diesem Sinne hat er doch wieder ein Original, zumindest beim Ausdruck auf Papier. Denn sobald die Kopie eine Verbindung mit Material eingeht, wird sie zum Unikat, von dem wieder identische Kopien gezogen werden können.

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