Zeitreisende Surfer und ordentlich was auf die Ohren

Die Premiere von „Zeitreisende Surfer“ Teil 2 findet im großen Saal des Freizeitheims Hannover-Vahrenwald statt. Ich habe keine Ahnung, was mich dort erwartet, denn ich bin hingefahren, um die Band Mordslaerm zu erleben. Sie soll zusammen mit einer Band aus Düsseldorf und einem Singer/Songwriter aus Hamburg nach den zeitreisenden Surfern auftreten. Ehrlich gesagt, bin ich erst zweimal in meinem Leben in einem Freizeitheim gewesen, und hatte keine Vorstellung davon, was in einem Freizeitheim so gemacht wird. Spontan hätte ich gedacht, da werden Basteleikurse abgehalten oder Malen nach Zahlen gelehrt unter Anleitung einer Hobbykünstlerin, die schon mal bei einer Kaffeefahrt eine richtige Kunstakademie von außen gesehen hat. Vorurteile, alles Vorurteile! Kürzlich hörte ich im Freizeitheim Linden den hier zu lesenden, sehr erhellenden Vortrag des Politikwissenschaftlers Gregor Kritidis über die Verhältnisse und Vorgänge in Griechenland. Im Freizeitheim Vahrenwald geht es um Zeitreisende Surfer, was Fragen zu Form und Inhalt aufwirft. Geht es um eine Reise auf den Wellen der Zeit, per Surfbrett durch den Zeitstrom? Oder ist „Surfer“ metaphorisch gemeint wie beim S-Bahnsurfen?

Im Erdgeschoss des stattlichen Freizeitheims Vahrenwald ärgere ich mich zum ersten Mal, dass ich meine Kamera vergessen habe. Da muss ich an einem abgetrennten Bereich vorbei, in dem acht Pokertische stehen, rundum besetzt mit Zockern und professionell mischenden Kartengebern. Soll Pokern etwa ein neuer Volkssport sein, der dem Alltagsethnologen in mir entgangen ist, weil ich Freizeitheime bisher habe links liegen lassen? Die Pokerspieler zocken ernst bis verbissen, und wie die Geber mit den Karten hantieren, das wirkt gelernt und lang geübt, eventuell in Kursen des Freizeitheims? Da wird von den Strickguerilla-Aktivistinnen manch eine übergelaufen sein, und wer endlich einmal mit Jetons, Plaques und Pokerkarten an einem richtigen Pokertisch spielen kann, wird sich vielleicht nicht mehr so richtig für die „Die Geschichte des Akkordeons“ (09.12.2011, Freizeitheim Vahrenwald) begeistern können. Zeitreisende Surfer haben die Pokerspieler jedenfalls nicht im Kopf.

Es geht in der Tat um Kopfkino, um eine Aufführung auf der inneren Bühne, denn „Zeitreisende Surfer“ ist ein Hörspiel. Es findet nicht im Radio, sondern im halbdunklen Saale statt. Man hat schon ohne mich angefangen. Die Stuhlreihen sind fast besetzt. Etwa 200 Personen unterschiedlichen Geschlechts und Alters blicken auf einen geschlossenen dunkelblauen Bühnenvorhang. Das Hörspiel tönt aus zwei großen Boxen je links und rechts oberhalb der großen Bühne. Im Saal auf einen dauerhaft geschlossenen Bühnenvorhang zu schauen und auf der inneren Bühne ein Hörspiel aufzuführen, wirkt absolut surreal, wie eine Filmszene über staatliche Indoktrination. Tatsächlich war der Rundfunk in Deutschland in den 20ern des letzten Jahrhunderts von der Reichsregierung zunächst so geplant gewesen, als Saalfunk, vergleichbar der Wochenschau im Kino, der sich später die Nationalsozialisten für ihre Propaganda bedient haben.

Ein Hörspiel als Saalfunk ist zwar ein kollektives Erlebnis, aber anders als beim Kinofilm ist der Zuhörer kein wehrloser Rezipient, sondern aktiver Sinngeber. Der Kinobesucher ist von der Wucht der übergroßen Bilder, den raschen Schnitten und einem Ton, der ihn durchschüttelt, derart vereinnahmt, dass ihm keine Gelegenheit gegeben wird, etwas Eigenes hinzuzufügen. Ein Hörspiel verlangt hingegen eigene Bilder, und wo der Kinobesucher in der Masse aufgeht, mit der Masse bebt, aufstöhnt oder lacht, ist der Saalfunkhörer in seiner eigenen Vorstellungswelt unterwegs – mit den zeitreisenden Surfern. Es geht, indem sich die Szenen in meinem Kopf zusammenfügen, tatsächlich ums Surfen, also da, wo es wirklich nass ist. „Zeitreisende Surfer“ erzählt eine Wellenreitergeschichte, einen Vater-Sohn-Konflikt, der aus dem Surfen entstanden ist und am Schluss surfend ins Happy End gleitet.

Das Hörspiel hat Witz, Dramatik und Versöhnungskitsch, ist tontechnisch absolut professionell gemacht, das Skript hat Qualität, nur um Zeitreisen geht es nicht, was mich als passionierten Zeitreisenden natürlich enttäuscht. Die Zeitreisen meinen eigentlich Rückblenden, aus denen sich die Geschichte erklärt. Möglicherweise hat die Autorin Franziska Schmidt ihren Zuhörern nicht zugetraut, Rückblenden als solche zu verstehen und sie deshalb als Zeitreisen inszeniert.

Die große Zahl der Zuhörer ist zunächst überraschend, wo es doch an einem Samstagabend bunt flimmernde Zerstreuungen zuhauf gibt. Mein Verdacht, sie könnten überwiegend Angehörige und Freunde der Mitwirkenden sein, bestätigt sich nachher. Als nämlich das Hörspiel glücklich zu Ende war, wurden die Sprecher auf die Bühne gerufen, und es waren sehr viele. Hier zeigte sich eine Schwäche des Hörspiels, in dem sogar ein Hund redet: zu viele Stimmen. Ein Hörspiel muss auf wenige Stimmen reduziert sein, damit die Zuordnung der Stimmen zu den Handlungsfiguren erfassbar bleibt. Freilich wären dann aber nicht so viele Leute gekommen. Man muss es als strategischen Schachzug der Autorin ansehen, mit den Gesetzen des Hörspiels gebrochen zu haben. In dadaistischer Hinsicht wäre das noch zu steigern, 250 mitwirkende Sprecher bringen gut 1.500 verwirrte Saalfunkbesucher und entsprechend viele CD-Käufer.

Nach dem Hörspiel leert sich der Saal, was gewiss nicht am Gitarrenspieler liegt, der in der Hörspielpause ein bisschen klimpert, derweil sich die zahlenden Gäste übers Buffet hermachen. Man ist erkennbar nur wegen des Hörspiels gekommen und hat kein Interesse an Musik. Dabei ist der Singer/Songwriter, der den musikalischen Teil eröffnet, ebenfalls leidenschaftlicher Surfer, kommt gerade aus Dänemark, wo er ein bisschen in die Nordsee gehüpft ist. Er singt auch Lieder auf Spanisch, weil er eine Weile in Spanien gelebt habe, sagt er. Vermutlich hat er den Spaniern was auf Deutsch vorgesungen, denn das Exotische macht sich gut bei der Selbstvermarktung. Ich gehe zweimal nach draußen zum Rauchen, bevor er fertig ist. Mir ist nämlich nicht nach spanischen Balladen, von denen ich kein Wort verstehe. Ich will endlich Mordslaerm!

Vorher kommen die drei Musiker von „Ramington Flashride & The Incredible Cat Heads“ aus Düsseldorf auf die Bühne und spielen instrumentalen Rock. Sie sind gute Musiker, aber keiner kann ordentlich singen, weshalb es der Sologitarrist nur einmal versucht. Vielleicht hätte der schräge Gesang sich auf Spanisch hübscher angehört. Eines aber muss man ihnen zugute halten. Sie haben das Hörspiel brav angehört und bleiben bis zum erhebenden Schluss mit Mordslaerm. In Düsseldorf weiß man stets genau, was gerade Trend ist. Die drei Musiker tragen Vollbärte und Frisuren wie in den Endsechzigern. Der Sologitarrist hat eine offene Hemdbrust mit einem dicken Kettchen und Anhänger darin. Er sieht so aus wie mein Schwager, als er noch Rocker war. Das ist meine Zeitreise.

Mordslaerm spielt vor einer Handvoll Zuhörern. Kürzlich habe ich mir beim Ohrenarzt die Ohren ausspülen lassen. Hätte ich besser erst nach diesem Auftritt gemacht. So knallt der Mordslärm ungehindert rein, fast schmerzhaft. Meine Ohrenärztin hatte mich gefragt, ob ich einmal einem starken Knall ausgesetzt gewesen sei, denn es gäbe einen ganz schmalen Frequenzbereich, auf dem ich nichts höre. Da sorge ich mich, dass Mordslaerm den Rest auch noch killt. Christian Loh, einer der beiden Rapper von Mordslaerm, hat sich im Laufe des Abends immer mal neben mich gesetzt und mich mit Informationen zum Projekt „Zeitreisende Surfer“ versorgt. Er versucht auch den Kontakt mit der ebenfalls surfenden Autorin herzustellen, was aber nicht gelingt, weil sie einfach zu beschäftigt ist, überall nach dem Rechten zu sehen.


Mordslaerm in Hannover – Foto: Sarah Ubrig (größer: Fotos klicken)

Eigentlich will ich die Texte von Mordslaerm noch einmal hören, aber die beiden Rapper sind angesichts der überlasteten Boxen kaum zu verstehen. Ihre Bühnenshow aber begeistert auch die Düsseldorfer Musikerkollegen. Beachtlich ist der Keyboarder von Mordslaerm. Er entlockt seinem Instrument avantgardistische, nie gehörte Töne, singt mit einer Stimmgewalt, dass ich mich sorge, mir könnten die Ohren abfallen, und wird unterstützt durch ein hartes, schnörkelloses Trommeln des Schlagzeugers, der sich durch nahezu perfektes Timing auszeichnet. Die beiden Gitarristen rocken ebenfalls schnurgeradeaus. Insgesamt habe ich lange nicht mehr eine derart spannende Musik gehört, auch wenn’s wehtat.

Zum Schluss werden die wenigen verbliebenen Zuhörer auf die Bühne gebeten, der Schlagzeuger von Mordslaerm setzt sich ans Schlagzeug der Düsseldorfer, und Rapper Christian Loh trommelt auf dem anderen. Hier ist es dann weniger laut, weil wir quasi hinter den Boxen stehen. Trotzdem singen mir die Ohren noch, als ich gegen ein Uhr in die Straßenbahn steige. Ich bin gespannt, was meine Ohrenärztin sagt.

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