Die wundersame Läuterung des Volontärs Hanno P. Schmock

Zu später Stunde, wenn die vielen kleinen Läden entlang der Limmerstraße geschlossen haben, wandelt sich das Publikum. Tagsüber sind Mütter mit kleinen Kindern unterwegs, Schwangere im Arm der Verursacher, die Businessfrau hüpft mit ihrem Rollköfferchen aus der Straßenbahn und stakst noch rasch in die Biobäckerei, um ihr Abendbrot zu kaufen, selbstbewusste Schönheiten decken sich im kleinen Kaufhaus mit exotischen Blusen ein, Müßiggänger schlürfen ihren Milchkaffee, Radfahrer sausen hin und her, dralle Schülerinnen trippeln zu dritt auf Ballerinaschühchen vorbei, junge Migranten zeigen ihre komplizierten Begrüßungsrituale.

Gegen Abend patrouillieren dagegen junge Leute mit der offenen Bierflasche in der Hand die lange Limmerstraße entlang und suchen sich irgendwo auf den Fensterbänken und in Eingängen geschlossener Läden einen Sitzplatz, um zu plaudern. Die offenen Kioske sind ihre Oasen, und immer wieder löst sich einer aus den Gruppen, um Nachschub zu holen. So geht es bis tief in die Nacht. Ab und zu rauscht stoisch eine hell erleuchtete Straßenbahn der Linie 10 vorbei, bringt neue Nachtschwärmer oder nimmt gleichgültig jene auf, die den Abend beschließen wollen. Zwei Flaschensammlerinnen ziehen ihre Kreise und klauben die geleerten Flaschen auf, warten auch geduldig, wenn einer rasch den letzten Schluck nimmt, um ihnen die leere Flasche zuzustecken. Auf diese Weise heizen sie die Geschwindigkeit des Saufens an. Möglicherweise gibt der Kioskbesitzer ihnen eine Prämie.

Ich sitze im Eingang der Biobäckerei und versuche vergeblich, eine Bierflasche mit dem Feuerzeug zu öffnen, was rundum alle beherrschen. Nur ich werde es in diesem Leben nicht mehr lernen. Von irgendwoher taucht Teppichhausvolontär Hanno P. Schmock auf, hat eine Schlägerkappe auf dem Kopf und die obligatorische Bierflasche in der Hand. Sein Gang ist unsicher, und er schießt von einer Gruppe zur anderen, begrüßt mal den, mal den, wobei er mit großer Geste die Bierflasche vorstreckt und klirrend mit ihr anstößt. Er wirkt euphorisiert, was gewiss nicht der Einfluss des Biers ist, dem doch eine beruhigende Wirkung nachgesagt wird. Einige Charaktere beginnen nach viel Bier zu krakeelen, andere werden zu schwermütigen Philosophen, aber man wird von Bier nicht schwärmerisch, will nicht die ganze Welt umarmen, was Schmock aber offenbar umtreibt. Da schießt er quer über die Straße, hat mich entdeckt, reicht mir überschwänglich die Hand und sinkt neben mir auf die Treppenstufe. „Wie heißt du noch mal?“, fragt er mit schwerer Zunge. Ich bin ein wenig ungehalten, aber nicht deshalb, sondern weil ich den Kronkorken nicht von meiner Bierflasche hebeln kann.

„Hast du dir etwa die Gehirnzellen weggesoffen, die den Namen deines Chefs gespeichert hatten?“

„J-u-l-e-s“ buchstabiert er. „O Mann, Jules, ich habe gestern die ganze Nacht durchgemacht, es ist wunderbar. Das Leben ist wunderbar.“

„Gut, dann tu ein Wunder und mach mir die Flasche auf.“

Er kann es auch nicht, stelle ich erfreut fest, versucht es gar nicht erst, sondern springt auf und haut einen großen, dicken, jungen Mann an. Der zieht gutmütig lächelnd ein Schlüsselbund hervor und öffnet die Flasche mit seinem Schlüssel. Schmock setzt sich wieder neben mich und reicht mir das Bier. „Merit hat mich besucht, war drei Tage hier“, sagt er. „Und ich preise die heilsame Wirkung dieser zuckersüßen Frau. Nie wieder werde ich etwas schreiben, nie wieder werde ich mich dieser verlogenen Technik bedienen. Das habe ich während unserer innigen Gemeinsamkeit beschlossen. Sie hat mich gelehrt, dass es um das gesprochene Wort und die Geste geht, geflüstert habe ich es in ihr Ohr, und ihre tastenden Finger enthielten mehr Wahrheit als alle aufgeschriebenen Worte der Philosophen!“

„Ach, hast du mir nicht erzählt, dass Merit in der PR-Abteilung eines großen Unternehmens arbeitet und nur damit zu tun hat, Pressemitteilungen zu verfassen, damit die Zeitungen positiv über dieses Unternehmen berichten? Und ist das nicht hart an der Grenze der Lüge?“

„Aber sie geht hindurch durch diese Welt des Lugs und Betrugs wie das göttliche Kind und bewahrt sich ihre inneren Wahrheiten, eine heitere Ironie und erfrischende Natürlichkeit.“

„Das ist nicht gerade ein Gegenargument.“

Schmock lutscht ungehalten an seiner Bierflasche. „Sie wirkt homöopathisch auf mich. Du weißt schon, Ähnliches wird mit Ähnliches bekämpft. Aber das Gegenmittel muss quasi ätherisch sein – wie die wunderbare Merit eben. Und jetzt will ich nichts mehr mit der Schrift zu tun haben, dieser korrumpierbaren Technik des eitlen Thot.“

„Es liegt doch an dir, ob du die Schrift zur Verbreitung der Lüge benutzt oder ob du dich um Wahrhaftigkeit bemühst.“

„Bemühen, bemühen! Wie könnte sich Wahrhaftigkeit durch bloßes Bemühen einstellen?!“, ruft der erst jüngst geläuterte Schmock aus. „Und außerdem, die Schrift enthält nicht nur potentiell die Lüge, sie wird durch das Internet zunehmend beliebig, ihr Sinn geht flöten, J-u-l-e-s.“

„Sehe ich gelassen. Ist doch mehr eine Stilfrage. Gut gewählte Worte enthalten nach wie vor Sinn.“

„Bisher habe ich dich immer für einen klugen Mann gehalten, aber du bist naiv“, sagt Schmock, was ich ein bisschen unbotmäßig finde.

„Das gefällt dir nicht?“, fährt er fort, „wie wäre es denn damit: ‚Herzlichen Dank, nun endlich habe ich dies wirklich begriffen.’ Oder: ‚Wahrhaftig ein super Beitrag. Ich muss echt trithemius.de mal haufiger lesen.’ Oder: ‚Da frage ich mich beim Lesen von trithemius.de schon, ob man nicht irgendwie auf den Kopf gefallen war. Danke für deine Berichte.’

„Phrasen aus Spamkommentaren des Teppichhauses“, sage ich lachend. „Diese finde ich besonders hübsch: ‚Im Grunde genommen n hammer Beitrag, nur kannst du beim nachsten Mal nicht n wenig umfassender schreiben? Das ware wirklich super.’ Oder den Satz: ‚Theoretisch ist dies eine geniale Geschichte, ich bin mir aber unsicher, ob dies langfristig brauchbar sein wird!’ Die meisten dieser Kommentare verlinken zu Seiten wie ‚Roulette mit System’, ‚Roulettetricks’ oder ‚Fettverbrennungsofen’. Und ulkiger Weise hängen sie sich meist an den Text ‚Post von künstlichen Menschen‘.“

„Aber siehst du das nicht, Trithemius, diese fingierten Spam-Kommentare betreiben die Sinnentleerung der Schrift. Wenn ein argloser Zeitgenosse dir einen Kommentar mit ähnlichen Floskeln schreibt, moderierst du ihn gleich in die Spam-Kiste. Dabei wollte er dir nur eine Freude machen, du aber hältst ihn nicht mehr für einen Menschen, sondern für einen Spambot, nur weil er Worte benutzt, die andere als automatisch erzeugte Phrase für ihre Zwecke instrumentalisiert haben.“

„Hm. Ich bin nicht sicher, ob das langfristig brauchbar sein wird.“

„Genau, das ‚Hm’ war die einzige inhaltliche Aussage, der Rest ist sinnentleertes Geschwafel, und ‚hm’ ist nicht mal ein vollwertiges Wort, nur eine Interjektion.“

„Verflucht, Schmock, ich muss dir den Umgang mit dieser Merit verbieten. Auf einen verliebten Mann ist einfach kein Verlass.“

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