Doodeln braucht Draht – Vom Schwinden einer Kulturtechnik

Bis vor kurzem besaß ich noch ein Telefon mit Schnur, weshalb ich zum Telefonieren am Tisch gesessen habe. Bei längeren Gesprächen habe ich oft gekritzelt, und wenn ich mit einer Frau telefonierte, dann wurde das Blatt ziemlich voll, denn Frauen telefonieren offenbar lieber und länger als ich. Dieses Kritzeln heißt „doodeln“. Der Duden erklärt: „doodeln – schwaches Verb – nebenher in Gedanken kleine Männchen o. Ä. malen, kritzeln.“ Vollgedoodelte Zettel haben nicht immer einen künstlerischen Wert, aber eine kulturelle Leistung sind diese spielerischen Kritzeleien sehr wohl. „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, sagt Friedrich Schiller.

Vor einigen Tagen habe ich mir ein schnurloses Telefon gekauft. Derzeit setze ich mich zum Telefonieren aus alter Gewohnheit noch gelegentlich an den Tisch. Aber mit einem schnurlosen Telefon kann man bequem vom Sessel oder sogar vom Bett aus telefonieren, wo kaum eine Gelegenheit zum Doodeln besteht.

Der schleichende Untergang der Kulturtechnik Doodeln ist mir nicht selbst aufgefallen, sondern eine Freundin hat mich gestern während eines ziemlich langen Telefongesprächs nebenher darauf hingewiesen. Normalerweise hätte ich gedoodelt, aber ich saß im Sessel. Das private Doodeln wird selten werden. Allenfalls in Büros wird es noch etwas länger vorkommen. Allerdings war ich einmal in einer großen Werbeagentur, deren Chef stolz sagte: „Sie finden hier im ganzen Haus keinen Bleistift mehr.“ Da konnten die Angestellten natürlich auch nicht doodeln.

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22 Kommentare zu Doodeln braucht Draht – Vom Schwinden einer Kulturtechnik

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