Regenignoranz und nasse Finger – Ethnologie des Alltags

Wie es heute in meinen Milchkaffee geregnet hat, habe ich ein Phänomen beobachtet. Da war, das ging … – noch mal neu: In meiner Wohnung ist es auch an heißen Tagen angenehm kühl, so dass ich nie so richtig weiß, wie warm oder kalt es draußen ist. Darum halte ich manchmal danach Ausschau, was denn die Leute so tragen, die unter meinen Fenstern vorbeilaufen, bevor ich das Haus verlasse. Doch diese Beobachtungen sind trügerisch. Derzeit sieht man alles: Frauen in Kapuzenmänteln, welche im T-Shirt, Männer mit kurzen Hosen, solche mit Langbein und Jacke. Als ich heute an der Limmerstraße eintraf, hatte sich gerade die Sonne versteckt. Vorher war ich noch unter der Sonne in eine Änderungsschneiderei gegangen, weil ich mir am Fahrrad eine Fünf in die Cargohose gerissen hatte, die ich beim besten Willen nicht flicken konnte.

Zwei türkische Frauen waren im Laden hinter der Theke. Die jüngere saß hinter der Nähmaschine neben einem Berg von Kleidungsstücken und telefonierte. Derweil bediente mich ein altes Muttchen und nahm die Hose in Augenschein. Sie wollte mir einen Zettelbeleg aus einem Block reißen, bekam aber das obere Blättchen nicht in die Finger. Darum beleckte sie Daumen und Zeigefinger ausgiebig, und als ich schon dachte, sie hört gar nicht mehr auf, ihre Finger zu belecken, fügte sich mein Beleg und ließ sich abreißen. Ich verstehe, dass das Belecken absolut notwendig war. Papier ist nicht nur geduldig, es fordert auch manchmal Geduld. Buchbinderinnen haben zum sicheren Greifen genoppte Fingerhüte aus Gummi, denn wer den ganzen Tag mit widerspenstigen Papierblättern zu tun hat, dem geht rasch die Spucke aus. Vermutlich sitzen im Hinterzimmer der Änderungsschneiderei weitere Frauen, um die Blöckchen im Schichtdienst zu belecken.

Jedenfalls war die Sonne beleckt … äh … der Himmel bedeckt, als ich den Laden verließ. Und zu meinem Pech war kein Stuhl unter den Markisen frei vor meiner geliebten Biobäckerei. Ich saß also unter freiem Himmel, als es in meinen Kaffee zu regnen begann. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen auf der lebendigen Limmerstraße. Man sitzt da auch gerne rum. Drei junge Frauen auf der Bank gegenüber, sommerlich gekleidet, ignorierten den Regen einfach, derweil ich nun doch einen Platz unter der Markise fand. Auch wenn die Straßenbahn wieder einen Menschenpulk ausspuckte, waren es lauter Regenignoranten. Man will den Regen einfach nicht wahrhaben, sondern will Sommer. Man sieht auch kaum Leute mit Regenschirm. Der Grund ist vermutlich magisches Denken, von der Vorstellung beherrscht, wenn ich den Regen beachte und mich danach richte, fängt der erst so richtig an, die Welt zu belecken.

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